Diskussion zu den Klassenauseinandersetzungen um die gelben Westen in Frankreich

Infoladen Kasama, Militärstrasse 87a, Zürich
Von

Mit GenossInnen aus Leipzig und Paris

Barbetrieb ab 19.30 Uhr, Vortrag ab 20 Uhr

Mitte November entzündete sich in Frankreich eine Bewegung in Protest gegen die von der Macron-Regierung angekündigte Steuererhöhung auf Diesel und Benzin. Im Unterschied zu den letzten Wellen von Kämpfen gegen die von der gegenwärtigen Regierung fortgesetzten Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen, organisieren sich die „Gelben Westen“ unabhängig von Gewerkschaften und Parteien. Nicht der Arbeitsplatz und der Kampf um den Lohn, sondern die Zirkulationssphäre scheint der zentrale Ort der Auseinandersetzung zu sein: es geht gegen das "teure Leben" und eine sinkende Kaufkraft. Das hauptsächliche Kampfmittel ist dementsprechend nicht der Streik, sondern Blockaden und aufständische Demonstrationen, die inzwischen regelmäßig in Plünderungen übergehen.

Die soziale Zusammensetzung der Bewegung hat einen besonderen geographischen Charakter: Ihren Ausgangspunkt nahm sie in der städtischen Peripherie, wo der Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln das Auto zum notwendigen Fortbewegungsmittel macht. In der Ablehnung der Dieselsteuer kam ein klassenübergreifender Unmut über die Reformpolitik der Regierung zum Ausdruck, welcher kleine Selbstständige und Ladenbesitzer ebenso erfasste wie ArbeiterInnen im privaten und öffentlichen Sektor. Die heterogene soziale Gemengelage drückt sich auch in ihren widersprüchlichen ideologischen und politischen Zielsetzungen aus. Neben der Forderung nach Rücknahme der Steuer traten bald weitere Forderungen wie die nach einer Erhöhung des Mindestlohns. Neben klassenkämpferischen Parolen sind nationalistische und rassistische Sprüche zu vernehmen. Zudem mischen Kader rechtsextremer Gruppen bei den Auseinandersetzungen mit. Mit der Ausweitung und Radikalisierug der Proteste zum Stichtag des "dritten Aktes" der Gelben Westen in Paris am 1. Dezember wurden diese Kräfte anscheinend in den Hintergrund gedrängt. Auch am 8. Dezember wurden Mitglieder der rechtsradikalen Action française aus den Reihen der gelben Westen aktiv verdrängt. Es kam zu Vereinigungen der Gelben Westen mit streikenden ArbeiterInnen, mit ökologischen und feministischen Protesten sowie demonstrierenden SchülerInnen. Nach den schweren Auseinandersetzungen bei Demonstrationen am 1.Dezember hat die Regierung mittlerweile die geplante Steuer zurückgezogen, jedoch offenbar ohne dadurch für Ruhe zu sorgen. Nach einem Abflauen der Bewegung zwischen den Jahren hat die Bewegung am 5. Januar (Akt 9) wieder an Fahrt aufgenommen und die Proteste streuen sich nun zunehmend in die Provinzstädte außerhalb der Capitale. Wie sich die Situation weiterentwickeln wird, bleibt offen.

Doch bereits jetzt lässt sich sagen: in nur wenigen Wochen scheint diese im ganzen Land agierende aufständische Bewegung mehr erreicht zu haben als die von Gewerkschaften und Studierenden getragenen sozialen Bewegungen der letzten Dekade, deren letzte siegreiche Erfahrung auf die Rücknahme des Ersteinstellungsvertrages (CPE) im Jahre 2006 zurückgeht. Der Protest gegen die neoliberale Reformwelle in Frankreich, ausgehend von Hollandes Arbeitsgesetz von 2016, über Macrons Exekutivverordnungen von 2017 bis hin zur Reform des staatlichen Eisenbahnunternehmens SNCF sowie des Schul- und Universitätswesens von 2018, nehmen eine neue Qualität an: Barrikaden, Brandsätze und Plünderungen in Paris; brennende Polizeipräfekturen und zerstörte Mautstellen in der Provinz. Seit Mai 68 hat man solche Szenen in den Pariser Straßen nicht nicht mehr vernommen und angesichts des Repressionsdispositiv vom 8. Dezember in Paris scheinen die Herrschenden diesen Eindruck zu teilen: 90000 Polizisten, 12 Räumpanzer und 1000 Verhaftungen in Paris. Der in den beaux quartiers des nordwestlichen Paris verursachte ökonomische Schaden durch die Blockierung des vorweihnachtlichen Kaufrausches ist nicht zu unterschätzen. Unabhängig davon, welchen Fortgang die Bewegung erfahren wird, steckt die Macronregierung in einer Legitimationskrise, die virtuell seit Macrons Amtsantritt im Mai 2017 schon immer existierte, aber sich nun in einer neuen radikalen Form antagonistisch artikuliert. Die Krise Macrons ist die Krise eines autoritären neoliberalen Stils des Durchregierens, der den Zerfall der Formen der bürgerlichen Demokratie (Gewaltenteilung, Parlamentarismus, Klassenkompromisse) zu besiegeln scheint. Die Infragestellung der Austeritätspolitik in Frankreich wird von den Herrschenden mit dem Versuch beantwortet, den Antagonismus in nationalistischer Manier einzuebnen: den sozialen Forderungen der gilets jaunes entgegnete Macron in seiner Rede an die Nation vom 3. Dezember sowie in seinem Brief an das französische Volk vom 13. Januar mit dem Projekt der Erneuerung der nationalen Identität sowie der französischen Migrationspolitik. Die Situation in Frankreich wird sich wohl kaum so schnell befrieden lassen, denn die Regierung hält weiterhin ihre Reformagenda aufrecht. Es ist derzeit absolut unklar, wie unter den gegebenen Bedingungen die für das erste Trimester 2019 geplanten Umstrukturierungen des öffentlichen Dienstes sowie der Arbeitslosenversicherung durchgesetzt werden sollen.

Wir wollen uns gemeinsam ein Bild über die gegenwärtige Lage verschaffen, ihre Vorgeschichte verstehen und mögliche Perspektiven diskutieren. Dazu wird es einen Input von GenossInnen aus Leipzig und Paris, u.a. von der Platforme d’enquêtes militantes, geben, die die Entwicklung der Bewegung nachzeichnen und sie theoretisch einzuordnen versuchen. Im Anschluss ist Raum für Austausch und Diskussion.