Auf dem Weg nach Nirgendwo. Das Ende des Fortschritts und die Aktualität einer staaten- und klassenlosen Welt

30. April 2018
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Flugblatt von Eiszeit zum 1. Mai 2018

Was war die Zukunft einmal schön! Wer sich Zukunftsvisionen aus dem 20. Jahrhundert für das anschaut, was jetzt unsere Gegenwart ist, kann nostalgisch werden oder verzweifeln. Sieht man einmal von den apokalyptischeren Varianten ab, die unter dem Eindruck des Kalten Krieges oder als Satiren auf Tendenzen der Gegenwart entstanden, so schien es allen Grund zu geben, sich auf die Zukunft zu freuen. Neben menschlichen Siedlungen im Weltraum, bahnbrechenden medizinischen Fortschritten und der Hoffnung auf eine neue Ära der Kommunikation und des menschlichen Friedens finden sich dort insbesondere Prognosen zur Zukunft der Arbeit. Diese stehen in grotesker Differenz zum Hier und Heute. John Maynard Keynes beispielsweise, immerhin einer der einflussreichsten bürgerlichen Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts, prophezeite 1930, dass in hundert Jahren die Wochenarbeitszeit auf 15 Stunden sinken werde.

Natürlich war der Fortschritt im Kapitalismus schon immer untrennnbar von der brutalen Ausbeutung der Lohnabhängigen. Doch ist von allem, aus dem der Kapitalismus als seinem Selbstverständnis nach dynamisches, von menschlichem Erfindergeist und Fortschrittsstreben getriebenes System einmal seine Legitimation bezog, nur ein trauriger Rumpf geblieben. Youtube-Star zu werden ist heute allemal die attraktivere Karriere, denn als Astronautin nach den Sternen zu greifen. Und eigentlich haben sowieso alle so viel Angst, dass das höchste der Gefühle ein Job ist, von dem man leben kann und der einen erst nach 40 in den Burnout schickt. Vom einstigen Utopismus ist nicht mehr viel übrig, der Erhalt des Status quo ist schon prekär genug. So ist die Investition in Raumfahrtprogramme den einst mal in diesem Bereich führenden Staaten nicht mehr viel wert, stattdessen schiesst der selbsternannte Unternehmerübermensch Elon Musk Autos ins All. Das Zukunftslabor Silicon Valley hat in den vergangenen Jahren seine grössten Erfolge damit erzielt, bereits Existierendes wie etwa Taxis, Lieferdienste oder private Zimmervermietung neu zu erfinden. Natürlich indem erkämpfte Arbeitsschutzrechte und Mindestlöhne durch Modelle ersetzt werden, bei denen das unternehmerische Risiko komplett auf den Schultern hochgradig prekärer «Selbständiger» ruht.

Und eigentlich haben sowieso alle so viel Angst, dass das höchste der Gefühle ein Job ist, von dem man leben kann und der einen erst nach 40 in den Burnout schickt.

Zurück in die Zukunft

Nicht nur das Glücksversprechen für die Zukunft ist passé, auch die Gegenwart präsentiert sich vordergründig in ziemlich einheitlichem Grau in Grau. Der herrschenden Klasse ist nicht nur die Zukunftsvision abhandengekommen, sondern auch, was sie in ihrem Aufstieg einstmals proklamiert hat: Vernunft und Humanität. Zur Lumpenbourgeoisie heruntergekommen lässt sie jede Strategie vermissen. Während sich die Lohnabhängigen von Lohnzahlung zu Lohnzahlung hangeln, mogelt sich das politische Personal von Notfalleinsatz zu Notfalleinsatz im allgemeinen Weltengetümmel.

Im Norden Syriens etwa ermordet das NATO-Mitglied Türkei im Pakt mit islamistischen Mörderbanden unter den Augen der mehrheitlich desinteressierten Weltöffentlichkeit die syrischen (und demnächst wohl auch: irakischen) Kurden. Jene also, die kürzlich noch für die vereinigte nationalstaatliche Vernunft aus Europa und den USA die Fusstruppen gegen den IS spielen durften, nur um nun mit Waffen aus eben jenen Staaten zunichte gemacht zu werden. Gleichzeitig sorgt die EU durch grosszügige Zahlungen an die Türkei dafür, dass es kaum jemand aus der Hölle des Stellvertreterweltkriegs in Syrien oder den anderen gründlich destabilisierten Staaten der Region nach Europa schafft. Letztes Jahr sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) beim Versuch, ein halbwegs erträgliches Leben in Europa zu finden, mindestens 3000 Menschen ertrunken.

Nicht nur Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten versuchen die europäischen Hochsicherheitszonen zu erreichen. Insgesamt hat sich die internationale Migration laut UNO massiv vergrössert. Letztes Jahr haben 258 Millionen Migrantinnen nationale Grenzen überquert. Bis 2060 wird aufgrund des ansteigenden Meeresspiegels die Flucht von bis zu 1,4 Milliarden Menschen aus den heutigen Küstenregionen befürchtet. Dazu kommen neue Hungerzonen in durch Klimawandel und fortschreitende Bodenerosion versteppten Landschaften – welche Auswirkungen die sich abzeichnenden ökologischen Katastrophen auf weltweite Migrationsbewegungen haben werden, lässt sich derzeit kaum ermessen. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt: Es wird noch ungemütlicher werden.

Und auch im Inneren der von Frontex geschützten Trutzburgen sieht es finster aus. Zwar verspricht die Internationale der Nationalisten, die fatale Entwicklung der Welt aus den teilweise bereits heruntergewirtschafteten Wohlstandsoasen auszusperren. Doch was sich unter dem Eindruck verschärfter Konkurrenz nach aussen als nationalchauvinistisch unterfütterter Imperialismus zeigt, äussert sich im Inneren als Sozialdarwinismus. Der Hass auf alles vermeintlich Unwerte wird zwar je nach Bildungsgrad unterschiedlich elegant formuliert, aber der generelle Tenor ist unüberhörbar: Wer nichts leistet, soll auch nichts essen, und wenn der Sozialstaat schon geschliffen wird, dann soll zwar nicht die Armut, aber wenigstens die Armen verschwinden. Dennoch jubeln liberale Apologeten wie der medial hofierte Evolutionspsychologe Steven Pinker, dass die Zahl der extrem Armen, die von weniger als 1.90 US-Dollar pro Tag leben müssen, im Rückgang begriffen ist. Dabei sinkt die Lebenserwartung in verschiedenen einstmals fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – auch und gerade dank eines erodierenden Gesundheitssystems. Von den Krisenstaaten an der europäischen Südperipherie und anderswo will man dann ohnehin nicht mehr sprechen.

Während sich die Lohnabhängigen von Lohnzahlung zu Lohnzahlung hangeln, mogelt sich das politische Personal von Notfalleinsatz zu Notfalleinsatz im allgemeinen Weltengetümmel.

Ziehen wir die Notbremse!

Vom einstigen Fortschrittspathos des Kapitalismus ist nicht mehr viel übrig. Nicht was uns bevorsteht, ist die Katastrophe, sondern dass es immer und immer so weiter zu gehen droht. Es wird wohl nicht die Geschichte, aber vielleicht eine der kommenden Generationen sein, die ein Urteil über jene sprechen wird, die alles tatenlos mitansahen, aber nicht verstehen wollten, dass das Elend der Welt kein Naturgesetz ist. Wer hinschaut, der sieht auch Ansätze einer Gegenwehr gegen die politische Konjunktur. Mancherorts tun sich Menschen zusammen, um gegen die Zumutungen etwas zu unternehmen. In den USA streiken Tausende von Lehrerinnen gegen miserable Arbeitsbedingungen, in Frankreich wehren sich unter anderem Eisenbahner und Studentinnen gegen Angriffe von oben, in Deutschland fallen Flüge und Bahnfahrten wegen Warnstreiks aus und Kinderkrippen bleiben geschlossen. Erinnert sei auch an die antirassistischen Kämpfe gegen Polizeigewalt zum Beispiel in den USA und in Brasilien, die Zehntausenden, die in Polen gegen ein neues Abtreibungsgesetz auf die Strasse gegangen sind sowie die Solidaritätswelle für Flüchtlinge in Deutschland. Und auch hierzulande finden sich Menschen zusammen, um sich gemeinsam darüber zu verständigen, was denn zu tun sei, damit es nicht einfach immer so weiter geht. Noch sind diese Kämpfe und Versuche voneinander getrennt und bleiben gegen die übermächtig scheinenden Verhältnisse blass, doch es ist nicht abzusehen, was sie erreichen, wenn sie eskalieren, sich ausbreiten und zusammenfliessen.

Die objektiven Bedingungen, um Grosses zu erreichen, wären ihrerseits so gut wie vermutlich noch nie in der Geschichte. Denn in der technologischen Entwicklung liegt eben auch ein kaum fassbares Potenzial: Roboter und Sensoren könnten uns von schwerer und monotoner Arbeit befreien; statt uns von "Big Data" auszuspionieren und normieren zu lassen, könnten wir Rechner und Netzwerke nutzen, um in Echtzeit nach unseren Bedürfnissen zu produzieren und die Sachen vernünftig zu verwalten. Bloss müsste nicht nur die Gesellschaft umgekrempelt werden, sondern auch einige Aspekte der Technik selber, denn zurzeit wird sie vor allem gegen uns verwendet. Der menschliche Erfindergeist müsste zudem nicht darauf verschwendet werden, Geschäftsmodelle für beliebig vermehrbare Dinge zu finden, die die Warenform zu unterlaufen drohen. Statt sie mit Patenten künstlich zu verknappen, könnten wir jegliche Software, Musikaufnahmen, Literatur, Nachrichten und die Ergebnisse von Architektur oder medizinischer Forschung öffentlich nutzbar machen.

Würde man auf überflüssige, aber im Kapitalismus unentbehrliche Arbeiten verzichten, wären augenblicklich riesige Ressourcen freigelegt: Versicherungs-Angestellte, Bankmanagerinnen, Steuerbeamte oder Staatsanwältinnen, sie alle könnten für sinnvollere Aufgaben eingesetzt werden. Und wenn man den kühnen Gedanken zulässt, dass etwa die Ressourcen, die für die Bombardierung und die Massaker in Syrien eingesetzt wurden, in den Aufbau der Region gesteckt worden wären, würde die Aufgabe heute in der Verwaltung einer blühenden Landschaft bestehen. Für den Bau eines US-Flugzeugträgers der Nimitz-Klasse werden etwa 40 Millionen Arbeitsstunden und bis zu sechs Milliarden Dollar geschätzt. Man kann sich selber ausrechnen, was mit diesen Ressourcen Sinnvolles angestellt werden könnte.

Die schlechte Nachricht: Im Kapitalismus werden Staatsraison und wirtschaftliche Anforderungen noch jede vernünftige Verwendung dieser Potentiale nachhaltig verhindern. Die gute Nachricht: Wenn wir dieses System überwunden haben, werden die Ressourcen und Potentiale zur Verfügung stehen. Sollten diese Energien in den Aufbau von Infrastruktur in den heutigen Elendsregionen fliessen, würde die globale Wanderung nicht nur abnehmen, auch die möglichen Auswirkungen auf die Umweltverschmutzung sind nicht abzuschätzen. Sollten dennoch Menschen in neue Weltregionen aufbrechen wollen, stände ihnen kein Hindernis mehr entgegen: Die globale Commune kennt keine Grenzen, die bewacht werden müssten.

Die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft kennt auch nicht die Konkurrenz als Grundprinzip, sondern die gemeinsame Organisierung der Belange der Menschen zur Befriedigung der Bedürfnisse der nicht mehr vereinzelten Individuen. Angesichts des Zustands der Welt und der gebotenen Perspektive, ist es nicht mehr als ein Gebot der Vernunft und der Bedürfnisse, dass man mit dem ganzen alten Dreck Schluss macht. Wir müssen den Sprung ins Ungewisse wagen. Denn auch wenn nicht direkt das Paradies ansteht, besser als heute wird es sein. Und so bleibt es an uns allen, jene Ansätze der Gegenwehr, die man mancherorts beobachten kann, nicht nur zu unterstützen und zu verbinden, sondern sie auch breiter bekannt zu machen.

Für die staaten- und klassenlose Gesellschaft

Kommunismus oder Barbarei