Die Wirtschaftskrise – Fakten und Fiktionen; Interview mit Paul Mattick

16. Januar 2012

In seinem Buch Business as Usual. The Economic Crisis and the Failure of Capitalism (2011) unternimmt Paul Mattick eine Entschlüsselung der aktuellen Krise, die sich von gängigen linken Erklärungsmustern deutlich abhebt. John Clegg und Aaron Benanav von der Zeitschrift Endnotes haben ihn dazu im April 2011 ausführlich befragt. Die deutsche Ausgabe des Buches erscheint Ende Februar 2012 unter dem Titel Business as Usual. Krise und Scheitern des Kapitalismus in der Edition Nautilus.

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Neueste Berichte deuten darauf hin, dass die Wirtschaft wieder wächst. Die Arbeitslosenquote stabilisiert sich oder geht sogar zurück und der Dow-Jones-Index zeigt nach oben. War die Krise also wirklich so einschneidend? Was lässt dich annehmen, dass ihr Ende noch nicht abzusehen ist?

Paul Mattick: Einiges. Eines sind die anhaltenden Schwierigkeiten in der Welt hinsichtlich der Staatsfinanzen und der Arbeitslosigkeit. Es ist falsch, nur die USA zu betrachten. Das Ganze ist ein weltweites Problem. Es gab eine ganze Serie von finanzpolitischen Krisen in Europa – in Portugal und in gewissem Maß auch in Spanien. Der Versuch, der Krise Herr zu werden, hat in England und Griechenland zu depressionsartigen Zuständen geführt. Die Krise hat auch China erreicht, wo hohe Wachstumsraten offensichtlich zu problematischen Inflationsraten führen – genau wie beim Pseudo-Wachstum in den 1970ern, das im Westen hohe Inflationsraten nach sich zog. Und auch bezüglich der USA würde ich mich nicht zu sehr von sinkenden und steigenden Arbeitslosenzahlen beeindrucken lassen. Zu einem bestimmten Grad drückt sich darin nur aus, dass Leute aus der Erwerbsbevölkerung fallen. Natürlich schwankt die Zahl der Leute, die einen Job kriegen, von Monat zu Monat geringfügig, aber alles in allem bleiben die Zustände extrem schlecht.

Das Ganze ist ein weltweites Problem.

Es gilt auch im Kopf zu behalten, dass die BIP-Wachstumsrate ein Konstrukt ist. Da die Wirtschaftstheorie zum Beispiel davon ausgeht, dass jeder Geldbetrag, den jemand erhält, die Bezahlung für eine Dienstleistung oder ein Produkt ist, erscheint es als Teil der Wachstumszahlen, wenn jemand bei Goldman Sachs einen Bonus bekommt. Wenn man Lloyd Blankfein [CEO von Goldman Sachs] einen Bonus von 35 Millionen Dollar zahlt, wird also unterstellt, er hätte eine Dienstleistung im Wert von 35 Millionen Dollar erbracht. In Wirklichkeit drückt die Wachstumsrate zunehmend das Maß an Aktivitäten im Finanzsektor aus, womit sie vollkommen imaginär bleibt. Es ist schön, wenn die eine oder andere Person einen Job abkriegt, aber die Wahrheit ist, dass die Stadt Detroit heute 25 Prozent kleiner ist als vor zehn Jahren. Die Arbeitslosenquote in Tampa, Florida – das hab ich heute zufällig gelesen – ist zwar im Vergleich zum letzten Monat um ein Prozent zurückgegangen, liegt aber immer noch bei 11 Prozent. Auf der ganzen Welt ist die Arbeitslosenquote sehr hoch. Die Kreditvergabe durch die Banken, die Investitionen und das tatsächliche Wirtschaftswachstum sind sehr niedrig.

Du sagtest, dass es sich dabei um eine weltweite Krise handelt. Kannst du etwas mehr zu den staatlichen Gegenmaßnahmen Krise sagen? Wie koordiniert waren die Maßnahmen auf globaler Ebene? Gibt es Unterschiede darin, wie in den USA, in Europa oder Ostasien mit der Krise umgegangen wurde, oder zwischen reichen und armen Ländern?

Ich glaube nicht, dass die Reaktionen sehr koordiniert waren. Wie immer in Krisenzeiten gab es eine Verschärfung im Konkurrenzkampf: Die verschiedenen Regionen versuchen, das Beste für das jeweilige nationale Kapital herauszuholen. In den USA gab es in bescheidenem Umfang den Versuch, die Wirtschaft zu stimulieren. Es ging vor allem darum, die Finanzstrukturen zu erhalten, die nicht nur für die USA, sondern für die ganze Weltwirtschaft wichtig sind. In Deutschland hat man abgewartet und darauf gehofft, dass man Kapitalgüter in andere Länder exportieren kann, während es in den schwächeren Ökonomien Europas zu schweren Zusammenbrüchen kam. Die Regierungen von Irland, Spanien, Portugal und Griechenland versuchen nun, lokale Finanzunternehmen zu stützen, die Anleger und die Banken zu retten und dabei die lokale Bevölkerung zu zwingen, die Hauptlast zu tragen. Der Euroblock ist also geschwächt worden, während die Staaten, denen es besser geht, vor allem Deutschland und in gewissem Maß auch Frankreich, nun für die prekäre Situation in den schwächeren Ländern bezahlen müssen. In China wiederum ist die Situation anders, weil China keinen normalen Kapitalmarkt hat. Die chinesische Regierung kontrolliert die einheimischen Finanzen und hat erhebliche Schulden aufgenommen, um die chinesische Ökonomie zu stimulieren, was nun zu ernsthaften Problemen führt. Sie stossen gegenwärtig an eine Grenze, was sowohl in China als auch im Rest der Welt große Ängste auslöst.

In jedem Teil der Welt geht man also anders mit der Krise um. Wenn man viel Öl hat, wie Katar oder Saudi Arabien, kann man es an den Westen verkaufen und hat großen finanziellen Spielraum. Man kann 36 Milliarden Dollar ausgeben, um die Proteste in den Städten zu beschwichtigen. Aber wenn man kein Geld hat, wie Ägypten, muss man sich mit einer aufgebrachten Bevölkerung herumschlagen. Man ist von der Unterstützung durch reichere Länder abhängig.

Als Erklärung der Krise hören wir oft, dass sie auf finanzielle Deregulierung zurückgeht, aber auch das Ungleichgewicht im Handel zwischen den USA und China wird häufig angeführt. Inwieweit ist dieses Ungleichgewicht verantwortlich für die Finanzblasen? Und kann es behoben werden?

Nun, natürlich gibt es ein Ungleichgewicht im Handel, die Frage ist aber: Warum? Tendenziell haben sich die Produktionsstätten von Hochlohn- in Niedriglohnländer verschoben. Die USA zum Beispiel haben die Produktion aus den Staaten des Nordens und des Mittleren Westens in den Süden und dann nach Südamerika und Asien verlagert. Die Unternehmen investieren nicht so sehr in neue Maschinerie, sondern versuchen ihre Profite zu erhöhen, indem sie die Kosten der Arbeitskraft weltweit senken. Ein grosser Prozentsatz der Produktion in China entfällt auf Fabriken, die durch ausländische Investitionen entstanden sind. Es gibt also eine chinesische Ökonomie, aber die chinesische Export-Ökonomie montiert vor allem Güter zusammen, die anderswo produziert wurden. Europa, die USA und gewisse Staaten in Asien, wie zum Beispiel Japan oder Taiwan, verlegen ihre Produktion nach China, wo extrem schlecht bezahlte Arbeiterinnen und Arbeiter Dinge zusammenbauen, die dann in den Rest der Welt verschifft werden. In gewissem Maß ist die Produktionsverlagerung nach China also eine Illusion. Es sind westliche Unternehmen, die chinesische Arbeiterinnen und Arbeiter anstellen – und einen Teil der Gewinne an die chinesische Bürokratie zahlen, damit sie ihnen Produktionsstätten zur Verfügung stellt und die Arbeiterinnen und Arbeiter im Zaum hält. Diese Fabriken sind von westlichen Investitionen und von westlichen Konsumenten abhängig. Es geht dabei nur darum, die Herstellungskosten im Westen niedrig zu halten.

Die Unternehmen investieren nicht so sehr in neue Maschinerie, sondern versuchen ihre Profite zu erhöhen, indem sie die Kosten der Arbeitskraft weltweit senken.

Der Wirtschafts-Blogger Tyler Cowen hat kürzlich ein Buch geschrieben, in dem er behauptet, dass die US-Wirtschaft seit vierzig Jahren stillsteht. Für diese Stagnation macht er die Erschöpfung der existierenden Technologie verantwortlich: „Wir haben die Erkenntnis versäumt, dass wir uns auf einem technologischen Plateau befinden.“ Bist du mit dieser Erklärung einverstanden?

Nein. Es lässt sich sagen, dass die westliche Wirtschaft – nicht nur in den USA, sondern auch in Westeuropa – Mitte der 1970er eine Periode der Krise eingetreten ist. Es gibt also seit vierzig Jahren nicht unbedingt Stagnation, aber ein sehr niedriges Wachstum, verglichen mit der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich war auch die technologische Entwicklung in diesem Zeitraum schwächer als früher. Aber das liegt vor allem daran, dass es viel weniger Geld zum Investieren gab. Man könnte sagen, dass die Unternehmen, wenn sie riesige Mengen Geld zur Verfügung hätten, möglicherweise die Solarenergie vorantreiben würden. Letzten Endes müssen sie einen Ersatz für fossile Brennstoffe finden. Sie sagen, dass sei viel zu teuer – aber es ist zu teuer, weil nicht genügend Kapital zur Verfügung steht, das in neue Formen der Energiegewinnung investiert werden könnte. Zu sagen, es sei zu teuer, heißt nur, dass das Kapital nicht genug Profit erzeugt, um neue Technologien zu entwickeln. Es ist ja nicht so, dass es zu wenig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Mathematikerinnen und Mathematiker oder Solar-Fachleute auf der Welt gäbe. Das Problem ist, dass die Unternehmen zu wenig Geld haben. Das erklärt auch, weshalb sie, selbst mit der existierenden Technologie, nicht fähig sind, Millionen von Leuten in Asien, Afrika und Lateinamerika eine Arbeit zu geben. Es gibt einfach zu wenig Geld, um auf dem gegenwärtigen Investitionsniveau weiter zu machen. Es ist einfach, dafür die Unfähigkeit der Wissenschaft verantwortlich zu machen, aber das ist nicht das Problem. Es gibt die Ingenieure und Ingenieurinnen, die Wissenschaft ist vorhanden. Das Problem ist, dass niemand das Geld hat, um in die Wissenschaft zu investieren, der Kapitalismus ist nicht in der Lage, genug Profit zu generieren, um die eigene Expansion voranzutreiben.

Aber wie zutreffend ist denn die Annahme einer Stagnation, allgemein betrachtet? In den 1980er Jahren gab es doch einen Aufschwung. Wie weit hat die heutige Krise noch etwas mit der Krise in den 1970ern zu tun?

Ich denke, dass wir uns in der Krise der 1970er befinden. Was es seit den 1980ern gegeben hat, waren spekulative Blasen verschiedener Art. Es gab einen gewissen Anstieg des Gewinns – Gewinn, der dadurch zu Stande kam, dass man die Arbeitskraft in Niedriglohnländer verlagert hat. Aber weil die Arbeit heutzutage nur einen kleinen Teil der Produktion ausmacht, blieb die Profitrate niedrig und gab es kaum technologische Entwicklung. Ab der Mitte der 1970er Jahre haben sich die Investitionen stetig von der Produktion in die Spekulation verschoben, in den Kauf und Verkauf von Unternehmen, Fusionen, Aufkäufe, in die Finanzsphäre und so weiter. Was in den 1990ern Globalisierung genannt wurde, war zu großen Teilen einfach der Kauf und Verkauf von Aktien in verschiedenen Teilen der Welt. Das kann man auch im Sprachgebrauch erkennen. Ich beschreibe in meinem Buch, dass das, was man früher Entwicklungsländer genannt hat, heute Entwicklungsmärkte genannt wird – aber die Märkte, um die es dabei geht, sind Aktien- und Immobilienmärkte. Es hat eine grundsätzliche Verlagerung der Investitionen von der Produktion zum Finanzsektor stattgefunden. Seit Mitte der 1970er sind die Investitionen und die Rentabilität – wie dies Professor Robert Brenner von der UCLA [University of California, Los Angeles] beschreibt – von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zurückgegangen, was nichts anderes als Stagnation bedeutet.

Was gegenwärtig passiert, ist, dass die Krise wieder auftaucht, die eigentlich Mitte der 1970er hätte stattfinden sollen. Die Kernthese meines Buches ist, dass die Krise durch alle möglichen Formen von Verschuldung aufgeschoben wurde: durch Privatschulden, öffentliche Schulden, Regierungsschulden. Das war etwas historisch Neues. Während des Zweiten Weltkrieges gab es den keynesianischen Gedanken, dass man sich verschulden kann, aber nur zeitweilig. Aber nach dem Krieg hatten sie eine solche Angst vor einer erneuten Krise, dass sie dazu übergingen, ein bestimmtes Maß an Staatsausgaben permanent aufrechtzuerhalten. Als das Goldene Zeitalter 1975 zu Ende ging, bekamen sie Angst. Daraufhin gab es eine enorme Kreditausweitung – und es wurden neue Kreditinstrumente erfunden. Damit ist es in der einen oder anderen Weise gelungen, die Krise vierzig Jahre vor sich her zu schieben. Aber irgendwann ging das nicht mehr.

Die Kernthese meines Buches ist, dass die Krise durch alle möglichen Formen von Verschuldung aufgeschoben wurde.

Und dann kam das Jahr 2008 – sie konnten die ganze Chose einfach nicht mehr am Laufen halten. Das ganze Kreditgebäude war auf einem Haufen Schuldscheinen errichtet worden, der im Verhältnis zur tatsächlichen Wertproduktion so groß wurde, dass er nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Ich denke, das war ein Schlüsselmoment. Ich mag mich irren – Wirtschaftswissenschaft ist keine exakte Wissenschaft –, aber ich denke, dass die jetzige Krise eine tiefe Depression ist. Manche mögen das zwar mit der Depression in den 1930ern vergleichen, aber die Regierungen haben heute nicht mehr das Geld, das sie in den 1930ern noch hatten. Geschichte wiederholt sich nicht – weshalb man aus der Vergangenheit nichts lernen kann –, wir haben es also mit einer vollkommen einzigartigen Situation zu tun: eine grosse Depression, aber eine, in der man nicht mehr auf den keynesianischen Apparat zurückgreifen kann, weil das ganze Geld bereits ausgegeben wurde. Die USA haben 14 Billionen Dollar Staatsverschuldung. Deshalb wissen sie jetzt einfach nicht mehr, was sie tun sollen.

Kannst du sagen, wie sich der langfristige Rückgang in der Weltwirtschaft seit den 1970er Jahren erklären lässt?

Das ist sehr kompliziert und umstritten. Ich denke, dass die Wirtschaftswissenschaft leider ein Feld ist, auf dem die Theorien weitgehend Schwindel sind. Die Wirtschaftswissenschaft ist eher eine Religion als eine Wissenschaft. Meines Erachtens gibt es eigentlich nur eine Erklärung für die langfristige Entwicklung des Kapitalismus, die Sinn ergibt und beschreiben kann, was tatsächlich passiert ist. Das ist die Theorie, die Karl Marx im Kapital aufgestellt hat, das im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde. Das ist seltsam, denn beispielsweise in der Physik würde heute niemand mehr sagen, wir müssen immer noch Newton lesen. Aber die Wahrheit ist, dass wir in der Analyse des Kapitals nicht besonders weit über Marx hinausgekommen sind.

Grundsätzlich ist Marx' Gedanke, dass der Kapitalismus, wie jede Gesellschaft, eine Organisierung des menschlichen Produktionsprozesses ist, was bedeutet, dass die Menschen ihre natürliche Umwelt bearbeiten, um sie in eine konsumierbare Form zu verwandeln. Den Menschen ist es eigen, dass dieser Prozess eher kulturell als biologisch bestimmt ist. In unserer heutigen Kultur ist die soziale Reproduktion von der Tatsache bestimmt, dass der Zugriff auf die natürlichen Ressourcen durch das Medium Geld von einer kleinen Gruppe von Leuten gesteuert wird. Das bedeutet, dass die Leute, die den Produktionsprozess steuern, eigentlich nicht an der Produktion selbst interessiert sind, sondern an der Ausweitung ihrer sozialen Kontrolle, an dem, was wir Profitmachen nennen. Güter können nur dann produziert werden, wenn dies unter Bedingungen geschieht, unter denen die Eigentümer des Produktionsprozesses – des Kapitals – einen Profit machen können. Aber weil die menschliche Arbeitskraft, die im Produktionsprozess verausgabt wird, die einzige Quelle der Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums ist, und weil die Eigentümer der Industrie unter kapitalistischen Bedingungen versuchen, sich in der Konkurrenz durchzusetzen und zu diesem Zweck Arbeitskraft durch Maschinerie ersetzen, kommt es – auf eine Weise, die man in ein paar Minuten nur schwer erklären kann – zu einem Fall der Profitrate. Marx ging davon aus, dass diese Tendenz durch das immer wiederkehrende Phänomen der Depression ausgeglichen wird. In einer Depression werden Kapitalinvestitionen entwertet, wodurch die Arbeit, die mit den bestehenden Produktionsmitteln geleistet wird, mehr zählt. Auf diese Weise sollten Depressionen zu Prosperitätsphasen führen. In groben Zügen entspricht das der Geschichte des Kapitalismus. Es gab tatsächlich die Tendenz, dass Phasen der Prosperität in Depressionen münden und Phasen der Depression in eine erneute Prosperität. Dieser Prozess lief etwa seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Wir befinden uns im Moment in einer erneuten Periode der Depression, die auf die starke Expansion des Kapitals nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen ist.

Die Wahrheit ist, dass wir in der Analyse des Kapitals nicht besonders weit über Marx hinausgekommen sind.

Das ist eine beinahe nichtssagende Beschreibung eines extrem komplizierten Phänomens, aber es gibt nun mal keinen einfachen Zugang zu dieser Thematik. Es ist ein sehr kompliziertes System, das mit ziemlich abstrakten Begriffen analysiert werden muss. Aber soweit ich sehe, hat die Geschichte des Kapitalismus als System die Marxsche Analyse durchaus bestätigt, obwohl er sie beinahe zu Beginn des Kapitalismus vorgenommen hat. Deshalb sehe ich auch keinen Grund, diese Analyse nicht als Erklärung dafür heranzuziehen, was heute geschieht.

Aber hat die Wirtschaftswissenschaft nicht gewisse Fortschritte gemacht seit dem 19. Jahrhundert? Wenn nicht in den heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, dann wenigsten durch die grossen Ökonomen der letzten hundert Jahre, wie Friedrich Hayek, Joseph Schumpeter oder John Maynard Keynes? Haben die nichts Neues gebracht?

Friedrich Hayek hat eine mathematisch ausgeklügelte Version der Wirtschaftstheorie des mittleren 18. Jahrhunderts aufgestellt, die schon damals nicht wirklich exakt war und es heute erst recht nicht mehr ist. Die einzige Figur, die einen gewissen Fortschritt gebracht hat, war Keynes, dem klar wurde, dass die Wirtschaftswissenschaft, die er auf dem College gelernt hatte, die Ereignisse seiner Zeit nicht erklären konnte, vor allem die Grosse Depression. Keynes erkannte, dass Theorien, an die Leute wie Hayek noch immer glaubten – dass der Kapitalismus ein System sei, das alle natürlichen und menschlichen Ressourcen ausschöpft –, Nonsens waren. Nicht nur gab es im 19. Jahrhundert eine Krise nach der anderen, es gab auch plötzlich eine sehr ernsthafte Krise im 20. Jahrhundert. Keynes verstand also, dass der Kapitalismus unfähig ist, die Ressourcen voll auszuschöpfen, die die Natur und die Menschen für die Wirtschaft darstellen. Als die Entwicklung der kapitalistischen Krisen zu Beginn des Jahrhunderts zur Folge hatte, dass das Dogma infragestellt wurde, der Kapitalismus sei vollkommen rational und ein System zur Maximierung des Wohlstands, fiel Keynes auf eine Version der Theorien des frühen 19. Jahrhunderts zurück. Sein Gedanke war folgender: Wenn die Kapitalistinnen und Kapitalisten unfähig oder aus verschiedenen psychologischen Gründen nicht gewillt sind, die sozialen Ressourcen auszuschöpfen, um Vollbeschäftigung zu schaffen (und damit den vollen Gebrauch der natürlichen und menschlichen Ressourcen sicherzustellen), dann soll die Regierung eingreifen und die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen. Als Keynes zu dieser Einsicht kam, hatten einzelne Regierungen das schon getan: Hitler in Deutschland und Roosevelt in den USA. Aber der Fehler in Keynes' Analyse zeigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich herausstellte, dass es den kapitalistischen Regierungen sogar während der damaligen Prosperitätsphase nicht möglich war, die Unterstützung der Wirtschaft zu beenden. Die kapitalistische Wirtschaft war nicht fähig, einen tatsächlichen Aufschwung aus eigenen Kräften einzuleiten. Sie war immer noch abhängig von einer zusätzlichen Finanzierung durch die Regierung. Somit stellte sich die ganze Idee als falsch heraus – dass der Kapitalismus von Natur aus effizient ist und nur unter bestimmten Umständen ineffizient, und dass in solchen Momenten lediglich der Staat in die Bresche springen muss, um das System am Laufen zu halten, und sich danach wieder zurückziehen kann. Somit hatte sich Keynes' Theorie schon in den 1970er Jahren als falsch herausgestellt, was auch erklärt, warum der Keynesianismus aus den Wirtschaftswissenschaften verschwand und verschiedene antikeynesianische Theorien Auftrieb bekamen – Ludwig von Mises fiel sogar auf den kruden Glauben zurück, der Transport und Handel von Gütern sei die Grundlage sozialen Friedens.

Wenn wir gerade über Keynes reden: Dein Vater (Paul Mattick) hat 1969 eine Art Untergrund-Klassiker zu dem Thema geschrieben – Marx and Keynes (dt. Marx und Keynes, 1971). Inwiefern beziehst du dich in Business as Usual auf das Werk deines Vaters? Zumindest oberflächlich haben wir einen stilistischen Unterschied zwischen den beiden Büchern festgestellt. Lässt das auf einen methodischen Unterschied schliessen?

Nein, das würde ich nicht sagen. Und ich würde sagen, dass mein Vater ein Schüler eines früheren marxistischen Theoretikers war, nämlich von Henryk Grossman. In einem Satz seines grossartigen Buches Das Akkumulations- und Zusammenbruchgesetz des kapitalistischen Systems (1929) findet sich bereits der gesamte Inhalt von Marx und Keynes. Grossman weist darauf hin, dass die Regierung kein wirtschaftlicher Akteur ist – sie besitzt keine ökonomischen Ressourcen – und folglich nur auf Kosten der Privatwirtschaft eine Rolle in der Ökonomie spielen kann. Sie kann keine Profite erzeugen und also auch nicht das Problem mangelnder Rentabilität lösen. Das Buch meines Vaters war deshalb wichtig, weil es eine Art Gedankenexperiment darstellte. Das Buch wurde in den späten 1950ern geschrieben, allerdings wollte niemand es veröffentlichen. Alle glaubten damals, die keynesianischen Maßnahmen hätten den Konjunkturzyklus abgeschlossen, der Staat könne die Wirtschaft mit seinen Eingriffen steuern und dabei sogar Feinabstimmungen vornehmen. Also meinte mein Vater: Lasst uns einmal davon ausgehen, dass die Marxsche Analyse korrekt ist – was bedeutet das für die Zukunft der keynesianischen Maßnahmen? Und was er vorausgesagt hat, ist dann mehr oder weniger auch passiert: Dass der Keynesianismus unfähig sein werde, einen erneuten Beginn des Konjunkturzyklus zu verhindern – und sogar, dass die nächste Depression die neue Form einer Kombination aus Inflation und Stagnation annehmen würde. Das war eines der wenigen Beispiele in der Geschichte der Sozialwissenschaften dafür, dass jemand ein Experiment unternimmt und sagt: Nun gut, auf der ganzen Welt wird etwas Bestimmtes gemacht – wird es funktionieren? Wenn diese Theorie stimmt, kann es nicht funktionieren. Es funktionierte nicht, also hatte er Recht. Aber ich würde sagen, das war nicht das Verdienst meines Vaters. Es war das Verdienst von Herrn Marx. Es ging eigentlich nur darum zu sagen: Wenn Marx Recht hat, muss Keynes falsch liegen. Und es stellte sich heraus, dass Marx Recht hatte und Keynes falsch lag. Aber das war etwas, was niemand akzeptieren wollte. Das Buch wurde von niemandem gelesen, von niemandem erwähnt, von niemamdem beachtet. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das ein interessantes Phänomen – dass jemand fähig war, in den Sozialwissenschaften eine Voraussage zu machen, die sich auch noch als richtig herausstellte. Die Tatsache, dass sie unbeachtet geblieben ist, zeigt, wie es ein Freund von mir formulierte, dass die Sozialwissenschaften halt vor allem sozial und weniger eine Wissenschaft sind.

Wenn Marx Recht hat, muss Keynes falsch liegen.

Zeitgenössische linke Ökonominnen und Ökonomen, die sich oft auf Keynes beziehen, kritisieren die aktuellen Sparmassnahmen als Bremse für einen Aufschwung. Im Gegensatz dazu sagst du, dass jeder wirkliche Aufschwung auf kapitalistischer Grundlage einen Abbau der staatlichen Defizite erfordert, mit allen Konsequenzen für den Lebensstandard. Was würdest du dann zu den Arbeiterinnen und Arbeitern sagen, die das Regierungsgebäude in Wisconsin besetzt haben? Handeln die vergeblich oder sogar gegen ihre eigenen Interessen, wenn sie versuchen, ihre Jobs zu erhalten?

Ich würde sagen, dass sie in ihrem eigenen Interesse agieren, insoweit sie nicht für die Wirtschaft kämpfen, sondern für ihre Renten, für etwas zu essen, ihren Lebensstandard, ihre Miete und so weiter. Aber sie sitzen einer Illusion auf, wenn sie denken, dass ihr eigenes Wohl und das Wohl der Wirtschaft miteinander einhergehen. Die Leute müssen lernen, dass sich beides in Situationen wie heute gerade widerspricht. In Wisconsin sind die Arbeiterinnen und Arbeiter offensichtlich ihren Gewerkschaften gefolgt, die bereit waren, die Lebensbedingungen ihrer Mitglieder der Wirtschaft Wisconsins zu opfern. Es wäre seitens der Arbeiterinnen und Arbeiter Wisconsins vernünftiger zu sagen: Zur Hölle mit Wisconsins Wirtschaft! Wir wollen was zu essen, wir wollen Boote, um auf dem See zu segeln, wir wollen unsere Rente und gute Schulen für unsere Kinder. Die Wahrheit ist, dass es dort einen tatsächlichen Konflikt zwischen den Interessen der so genannten einfachen Leute – also der Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse – und den Interessen der kapitalistischen Wirtschaft gibt. Die Erhaltung und künftige Prosperität des Kapitalismus erfordert die Verarmung der Bevölkerung, und wenn sie es bevorzugen, zu verarmen, um den Kapitalismus zu retten, schön, dann werden sie verarmen. Der instinktive Wunsch, nicht zu verarmen, scheint mir sehr vernünftig zu sein, aber das Problem ist, dass sie bis jetzt nicht verstanden haben, dass sie im Kapitalismus nicht mehr Renten und Löhne wie früher bekommen werden.

Heisst das, dass es schlicht unmöglich ist, gegen die Kürzungen anzukämpfen?

Ich denke, dass die Kämpfe gegen die Sparprogramme radikaler werden müssen. Sie müssen sich ganz direkt auf materielle Güter konzentrieren. Es gibt im Moment zum Beispiel Millionen von Leuten, die aus ihren Häusern geworfen wurden. Es gibt also viele leere Häuser, die Leute müssen damit beginnen, diese leeren Häuser zu beziehen. Es gibt viele Nahrungsmittel, also müssen sich die Leute diese Nahrungsmittel nehmen. Wenn Fabriken geschlossen werden, müssen die Leute in die Fabriken gehen und damit beginnen, Güter herzustellen. Aber sie dürfen nicht erwarten, dass ihnen Unternehmerinnen und Unternehmer Jobs geben. Wenn sie profitabel angestellt werden könnten, wären sie, wie ich in meinem Buch schreibe, längst eingestellt worden. Und sie können nicht vom Staat erwarten, dass er ihnen Jobs gibt. Der Staat hat sowieso kein Geld. Aber das heisst nicht, dass es keinerlei Möglichkeit gäbe, die Sparprogramme zu bekämpfen. Amerika ist immer noch ein reiches Land. Es hat von allem genug. Die Leute müssen anfangen, es sich zu nehmen. Sie müssen ganz direkte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen fordern – ganz konkrete Dinge. Statt Arbeit zu fordern, die sie sowieso nicht bekommen, müssen sie etwas zu essen fordern. Es wäre ein sehr intelligenter Zug zu sagen: Schön, ihr könnt uns keine Arbeit geben – dann gebt uns was zu essen, und zwar gratis. Es ist ja nicht so, dass es nichts zu essen gäbe.

Ich denke, dass die Kämpfe gegen die Sparprogramme radikaler werden müssen.

Dein Buch endet recht düster – mit der Vision einer bevorstehenden ökonomischen und ökologischen Katastrophe. Von jemandem, der eine andere Welt für möglich hält, wie du in einem anderen Artikel mal geschrieben hast, hätten wir uns mehr Optimismus erhofft. War das nur eine leere Geste oder Aussage? Was ist diese andere Welt, wie sieht sie aus, und was können die Leute tun, um sie zu verwirklichen?

Nun, das ist irgendwie frustrierend, gerade weil es so offensichtlich ist. Wir haben diesen enormen produktiven Apparat. Wir haben eine Welt voller Gebäude, Büros, Schulen, Fabriken, landwirtschaftlichen Betrieben und die ganze Technologie. Und es gibt absolut keinen Grund, dass sich die Leute diese Dinge nicht einfach nehmen sollten und sie benutzen. Was sie zurückhält, ist einerseits, dass ihnen das gar nicht in den Sinn kommt, und andererseits die Polizei, das Militär – ein riesiger Apparat, der sie daran hindert. So wie die Leute erzogen werden, kommen sie kaum auf den Gedanken, dass man sich die Sachen einfach aneignen könnte, dass alles ihnen gehört. Es ist lustig – ich habe neulich einen Artikel des französischen Revolutionärs Blanqui gelesen, der den wunderbaren Titel hat: “Wer die Suppe kocht, soll sie auch essen dürfen” (1834). Er sagt, es sei alles ganz einfach: Wenn alle Kapitaleigner verschwinden würden, bliebe die Welt dieselbe – es gäbe die selben Bauernhöfe, die selben Fabriken – aber wenn alle Arbeiterinnen und Arbeiten verschwinden würden, würden alle verhungern. Wir sind in keinerlei Hinsicht über diesen Punkt heraus. Das Problem ist, dass sich die Leute an den Kapitalismus gewöhnt haben, sie haben sich dermassen daran gewöhnt, für jemand anderen arbeiten zu müssen, dass sie gar nicht sehen, dass sie das Ruder übernehmen könnten. Was würde die Leute zu diesem Schritt bewegen? Ich glaube, dass es ziemlich drastische Erfahrungen braucht, um die Leute dazu zu bringen, sich anders als gewohnt zu verhalten.

Das ist der Grund – obwohl ich Katastrophen nicht mag und mich genauso davor fürchte wie jede und jeder andere auch –, weshalb man daran auch eine positive Seite sehen kann. Nehmen wir ein ganz aktuelles Beispiel. Die Leute in Ägypten haben lange Zeit in krasser Armut gelebt. Aber in den letzten Jahren sind die Nahrungsmittelpreise um etwa achtzig Prozent gestiegen. Das war einfach zu viel. Es gab einen grossen Aufstand. Sie wurden Herrn Mubarak und seine Söhne los, und jetzt haben sie General Tantawi, den die Offiziere Mubaraks Schoßhündchen nennen. Anstelle von Mubarak regiert nun also sein Schoßhündchen das Land. Nichts hat sich geändert. Sie befinden sich noch immer in exakt der selben Situation. Jetzt stellen sie fest: Oh Gott, die Aufgabe ist viel größer. Die Leute denken, ok, der nächste Schritt ist es, die Armee zu bekämpfen, aber das ist wesentlich schwieriger. Solange die Armee nicht bereit war, einen zu erschiessen, konnte man ein oder zwei Leute loswerden. Aber jetzt, wie bekämpft man die Armee? Man bräuchte enorme Streikbewegungen und es würde sehr blutig verlaufen, deshalb kann man verstehen, dass die Leute Angst haben.

Ich glaube, dass es ziemlich drastische Erfahrungen braucht, um die Leute dazu zu bringen, sich anders als gewohnt zu verhalten.

Trotzdem, es ist nicht unmöglich. Die kommenden Katastrophen werden gigantisch sein – ich habe kürzlich gelesen, dass die Inder momentan eine Mauer zwischen Indien und Bangladesch errichten. Sie wissen, dass 100 Millionen Leute versuchen werden, nach Indien zu gelangen, weil die globale Erwärmung den Meeresspiegel steigen lässt und so zu Überschwemmungen führt. Sie bereiten sich also darauf vor, 100 Millionen Menschen umzubringen. Die amerikanische Regierung versucht mit militärischen Mitteln zu verhindern, dass Mexikanerinnen und Mexikaner in die USA strömen, während die Leute in Mexiko verhungern. Das sind die Zukunftsaussichten. Die momentane Situation steuert auf die Katastrophe zu, die sich möglicherweise über einen Zeitraum von fünfzig Jahren entfalten wird. Irgendwann werden sich die Leute dem stellen müssen. Ich weiss nicht, ob das Optimismus ist.

Als ich jünger war, sah es so aus, dass es passiert: Leute auf der Strasse, Freiheit, Sozialismus – aber es hat sich herausgestellt, dass die Menschheit schwerfällig ist. Und die Aufgabe macht Angst. Die Armee ist gross. Die Gesellschaft ist schwierig zu verstehen, und niemand weiss wirklich, was gerade passiert. Es geht um Millionen von Menschen, es gibt Religion und es gibt die Eltern. Ich gehe die Strasse entlang und denke, es ist verrückt – wissen die Leute nicht, was los ist? In 75 Jahren wird das ganze Gebiet unter Wasser stehen, und die Leute kümmern sich darum, welche Jeans sie gerade kaufen sollen! Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass das, was man gerade erlebt, in zwanzig Jahren nicht mehr da sein wird. Während des Ersten Weltkrieges hat es bis 1916 gedauert, bis die grossen Demonstrationen in den deutschen Städten anfingen. Und es hat nochmal zwei Jahre gedauert, bis die Leute gesagt haben: Wir gehen nicht mehr gegeneinander kämpfen. Und das war noch milde – der Erste Weltkrieg war nichts im Vergleich zum Zweiten, und er war nichts im Vergleich zu dem, was noch auf uns zukommt. Fast 60 Millionen sind im Zweiten Weltkrieg gestroben. Heute sprechen wir über Hunderte von Millionen, die verhungern und ertrinken. Das ist der Grund, weshalb ich nicht gerade fröhlich in die Zukunft schaue. Sozialismus oder Barbarei, wie Luxemburg sagte. Das sind unsere Álternativen.

Das Interview ist zuerst in der Zeitschrift Brooklyn Rail erschienen und wurde für die Kosmoprolet-Website übersetzt. Eine gekürzte Fassung ist in der sozialistischen Zeitung vorwärts erschienen.