Wie nationalistisch ist das Kapital heute?

12. Dezember 2017

Wir dokumentieren hier einen Beitrag von Robert Schlosser, der ausgehend von den wirtschaftsnationalistischen Tönen der Trump-Regierung das heutige Verhältnis von Freihandel und Protektionismus untersucht. Er scheint uns interessant, weil er im Unterschied zu vielen anderen linken Deutungen, für die der Kapitalismus im Kern ohnehin eine nationale Veranstaltung ist, die These vertritt, dass eine wirkliche Abkehr vom Freihandel nur als Katastrophenpolitik denkbar wäre, bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen.

 

Als Donald Trump seine Parole America first ausgab, entstand weltweit helle Aufregung unter den VertreterInnen des Freihandels. Aber selbstverständlich hat er damit nur eine Maxime offen ausgesprochen, der sich alle Regierungen von Nationalstaaten verpflichtet fühlen. Der Amtseid für Regierungsmitglieder lautet in Deutschland »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden […] werde. So wahr mir Gott helfe«, aber er ist in allen bürgerlichen Demokratien ähnlich. Das gibt einen praktischen Hinweis darauf, wie die in ihren Verfassungen formulierten »Menschenrechte« zu verstehen sind; in deren Genuss kommt nicht, wer etwa vor den politischen und sozialen Folgen der segensreichen kapitalistischen Produktionsweise flieht. Verpflichtet ist man nur dem Wohle der deutschen Nation, nicht dem aller Menschen. Deutschland zuerst steht unausgesprochen in der Eidesformel.

Entscheidend für diese Mehrung des nationalen Wohls ist das Wachstum der jeweiligen Nationalökonomie. Alle Regierungen sind schon in diesem Sinne zu Nationalismus verpflichtet. Praktisch macht es jedoch einen Unterschied, auf welchem Wege dieses Wohl gemehrt werden soll, ob man sich stark genug für die freie Konkurrenz fühlt und daher mehr auf Freihandel und offene Märkte setzt – und damit zugleich unbewusst dem von Marx entdeckten »ökonomischen Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft« freie Entfaltung einräumt – oder mehr auf den Einsatz außerökonomischer, politischer Macht zur Abschottung des eigenen Marktes, also auf Protektionismus; ob man seine Mehrung eingebettet sieht in die des Wohls aller »Völker« – also das Wirtschaftswachstum durch Kapitalakkumulation im eigenen Land in Abhängigkeit von einem solchen weltweit – oder sie unabhängig davon fördern, also innerhalb einer besonderen Nationalökonomie auch dann politisch durchsetzen will, wenn es unter den entwickelten Ländern generell ökonomisch bergab geht oder Stagnation herrscht.

Freihandel damals und heute

Marx hat sich Mitte des 19. Jahrhunderts aus recht grundsätzlichen Erwägungen für den Freihandel ausgesprochen. Wie Engels erläuterte: Weil er ihn als den »Normalzustand der modernen kapitalistischen Produktion« verstand, der die Entfaltung der Produktivkräfte, die Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, die immer schärferen Krisen und schließlich »eine gesellschaftliche Umgestaltung« fördere, die die Masse der Bevölkerung »von der Lohnsklaverei befreit« – »deswegen und nur deswegen erklärte sich Marx für den Freihandel« (MEW 21, 394).

Wollte man sich heute als KommunistIn auf ähnliche Weise für den Freihandel aussprechen, wäre das natürlich ein schlechter Witz: Es hieße alles auszublenden, was es an gravierenden Veränderungen seit dem 19. Jahrhundert zu bestaunen gibt, etwa die enorm gestiegene Arbeitsproduktivität, die Entwicklung des Kapitalismus in zahllosen Ländern und die Integration auch des letzten Winkels der Erde in den Weltmarkt.

Der Freihandel hat im Prinzip all das bewirkt, was er Marx zufolge bewirken sollte und konnte. Unter seiner Vorherrschaft hat sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg die internationale Arbeitsteilung enorm entwickelt. Ohne ihn wären die Existenz und ökonomische Bedeutung der multi- oder transnationalen Konzerne kaum vorstellbar: Von 1990 bis 2008 stieg ihre Zahl von rund 35 000 auf 82 000, die ihrer Tochterunternehmen von 150 000 auf mehr als 800 000; und während ihre Konzernzentralen 1990 noch fast ausnahmslos in den entwickelten Ländern beheimatet waren, galt dies 2008 nur noch für gut 70 Prozent. Fast zwei Drittel des Welthandels entfallen heute auf »konzerninterne Transaktionen« zu »Verrechnungspreisen«.

Die sogenannten Wertschöpfungsketten dieser Konzerne sind international organisiert und besonders ihre Manager grundsätzlich interessiert an Freihandel in offenen Märkten. Allgemeiner Protektionismus wäre das Ende ihres Geschäftsmodells, bei dem Vor- und Endprodukte unter den jeweils kostengünstigsten Marktbedingungen in unterschiedlichen Nationalökonomien erzeugt werden und das auf diesem Wege eine Erhöhung der Profitraten ermöglicht. Exemplarisch für die deutsche Automobilindustrie an VW illustriert:

Würde die Bundesregierung Schutzzölle auf importierte PKWs erheben, um die einheimische Industrie vor billiger Konkurrenz zu schützen, so träfe das auch Skodas aus Tschechien oder Seats aus Spanien. Deren Preis würde sich in Deutschland durch die Zölle erhöhen und ihren Absatz entsprechend drücken, die Profite von VW also nicht vergrößern, sondern verringern. Mercedes wirbt seit einiger Zeit nicht mehr mit Made in Germany, sondern mit Made by Mercedes. Auch das ein deutlicher Hinweis darauf, was die Macher in diesem Weltkonzern noch von »National«-Ökonomie halten. Es kann daher nicht verwundern, dass die Geschäftsführungen solcher Konzerne in den USA wenig begeistert sind von Trumps protektionistischer Version des America first. Er droht ihnen mit Strafe, wenn sie die Produktion nicht ins Land zurückholen. Damit die multinationalen Konzerne aus eigenem Interesse aufhören, multinationale Konzerne zu sein, und ihre Produktion wieder nach Amerika verlagern, müsste sich dort noch einiges ändern; die Unterschiede zu Ländern wie China und Mexiko in den Bedingungen für Mehrwertproduktion müssten verschwinden.

Gegenüber dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltmarktökonomie in dieser Hinsicht stark gewandelt; nicht nur sind die territoriale Aufteilung durch den Kolonialismus und die durch den Realsozialismus gesetzten Schranken für die Ausdehnung des Weltmarktes verschwunden – also auch die damit einhergehenden Kriegsgefahren –, auch haben sich Gewicht und Struktur der kapitalistischen Industrien verändert. Dass die früher in Deutschland so bedeutende Schwerindustrie sich vom Protektionismus zum Schutz der »deutschen Produktion« auf deutschem Boden etwas versprach – verbunden mit militärischer Aggression und Kolonialismus zur Sicherung der Rohstoffversorgung –, das ergibt schon einen kapitalistischen Sinn. Entsprechend stießen auch die nationalsozialistischen Autarkiepläne, die ein »blockadefestes Großimperium« schaffen sollten, bei ihr auf Anklang. Dabei ging es nicht zuletzt um eine gesicherte Versorgung mit Rohstoffen. »Der Schoß, aus dem das kroch« ist aber heute weder in Deutschland noch in irgendeinem anderen industriell entwickelten Land mehr fruchtbar. Mit der Tendenz zu einer absoluten Entwicklung der Produktivkräfte entwickelt das Kapital zugleich einen wachsenden Heißhunger nicht nur nach immer mehr, sondern aufgrund der Diversifikation der Gebrauchswerte auch nach immer neuen Rohstoffen. Deutschland bezieht solche heute aus gut 160 Ländern. Daraus resultiert aber kein Streben nach Annexion, nach einer territorialen Neuaufteilung der Welt. Ganz im Gegenteil: Gerade die Rohstoffinitiative der EU zielt auf die Abschaffung von Handelsbegrenzungen und die Ermöglichung ausländischer Direktinvestitionen im globalen Süden, um so europäischen Konzernen einen schrankenlosen Zugang zu Rohstoffen zu gewähren. In keinem kapitalistischen Land der Welt – nicht einmal in den USA, Russland oder China, die reich sind an Bodenschätzen – dürften sich heute durchsetzungsfähige politische Bestrebungen nach Autarkie – als Kriegsziel und Mittel, um den Krieg gegen andere kapitalistische Länder führen zu können – herausbilden.

Auch in der Welt der Geschäftsführungen multinationaler Konzerne dürften protektionistische Überlegungen kaum Begeisterung hervorrufen. Allgemeiner Protektionismus als Konkurrenzmodell kann in dieser „Klasse“ kaum einen sozialen Träger finden. Für sie bedeutet Investitionsfreiheit auch die Freiheit, Produktion an den Standort auf dem Globus zu verlagern, wo sie am kostengünstigsten und profitabelsten organisiert werden kann. Das setzt zwar einerseits unterschiedliche Nationalökonomien mit unterschiedlichen Gesetzgebungen voraus, verlangt aber andererseits offene Märkte und die Öffnung für die grenzenlose Anlage von Kapital. Auch die heute entwickelteste Form des Kapitals produziert somit kein Interesse an der Beseitigung der Nationalstaaten, wie es die Theoretiker des „Ultraimperialismus“ annahmen. Die einzelne Nationalökonomie als staatlich geschützter Rückzugsraum für Kapital steht aber quer zu den Interessen der Multis.

Trotzdem sind der Protektionismus und der ihn begleitende ideologische Nationalismus nicht verschwunden und werden nicht verschwinden, weil und insofern die kapitalistische Produktionsweise - gerade vor dem Hintergrund von Freihandel in offenen Märkten – zu Überakkumulation führt und eine wachsende Zahl von Verlierern in freier Konkurrenz produziert. Zu diesen Verlierern gehören LohnarbeiterInnen ebenso wie Besitzer von Kapital und ganze Nationalökonomien. Damit wird aus dem Versprechen auf ökonomisches Wachstum und Teilhabe durch freie Konkurrenz eine Bedrohung von Verlust und sozialen Abstieg durch freie Konkurrenz.

Perspektive „Fair Trade“?

In seinem bereits zitierten Vorwort zu Marx‘ „Rede über den Freihandel“ von 1848 wies Engels 1888 darauf hin, dass Großbritannien, einst der größte Verfechter des Freihandels, den Protektionismus, „schlecht verhüllt unter dem Schleier des 'Fair Trade'“, erwog, weil die USA und Deutschland England wirtschaftlich einge- und überholt hatten. Als sich Deutschland 1914, sowie Deutschland und Japan Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre anschickten, militärisch die Weltwirtschaft neu zu ordnen, standen sie gegenüber den USA von Anfang an auf verlorenem Posten. Der moderne Krieg wird durch die Industrie entschieden und die kapitalistische Industrie der USA konnte es ohne Zweifel mit der Japans und Deutschlands zusammen aufnehmen.

Anders stellt sich heute die Frage mit dem Aufkommen Chinas als neuer Großmacht, die sich auf kapitalistische Industrie stützt. China ist tatsächlich potentiell in der Lage, die ökonomisch-politisch-militärische Dominanz der USA in der Welt zu brechen. Das wird zunehmend auch den USA bzw. jenen Kapitalbesitzern und Lohnarbeiterinnen, die zu den Verlierern in der Weltmarktkonkurrenz gehören, bewusst. Dieser Umstand erklärt, zumindest teilweise, Trumps Erfolg. Und so fordert Trump den „Fair Trade“.

„Fair Trade“ wird heute aber nicht nur in den USA verlangt, um die aktuellen Hauptprofiteure der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzten freien Konkurrenz – Deutschland und China – an die Kette zu legen. Diese Forderung wird auch von großen Einzelkapitalen selbst in Deutschland erhoben, die sich bedroht sehen. So verlangt Thyssen-Krupp in Deutschland allen Ernstes „Fair Trade“ in der Konkurrenz mit der chinesischen Stahlindustrie und die Belegschaft schloss sich unter Führung von IG Metall und Betriebsrat – über die Dumpingpreise empört - an. Offenbar ganz in Vergessenheit geraten ist, dass die deutsche Stahlindustrie doch selbst zu dem wurde, was sie lange Zeit war und heute immer noch ein bisschen ist, durch die gleichen Billigprodukte, mit denen heute die chinesische Stahlindustrie auf den Weltmarkt drängt. „Made in Germany“ war im England des 19. Jahrhunderts der Inbegriff für billige Kopien, die das englische Industriemonopol brechen sollten.

„Fair Trade“ ist heute auch eine recht beliebte linke Parole, die dem Schutz vor den Auswirkungen freier Konkurrenz dienen soll. Selbst wer die Berechtigung der Forderung nach „Fair Trade“ für weniger entwickelte Länder anerkennt, sollte nicht übersehen, dass es eine marktideologische Forderung ist, die das Heil in Steuerung von Angebot und Nachfrage sieht und daher ungewollt schnell zu Koalitionen führt, die man eigentlich nicht will. Machte die deutsche Linke lange gegen TTIP, dem transatlantischen Handelsabkommen, mobil, so hat Trump TTIP gestoppt und den Austritt der USA aus TPP – dem anderen großen neuen Freihandelsabkommen im Pazifikraum – verkündet.

Die Perspektiven, die die kapitalistische Produktionsweise – speziell in den industriell entwickelten Ländern - heute noch zu bieten hat, sind ausnahmslos schlecht. Einen nationalen Ausweg aus dieser Misere gibt es nicht, auch keinen „linksnationalen“. Selbst die Verteidigung errungener oder im Zuge der verschwundenen Systemkonkurrenz zugestandener Sozialreformen setzt eine internationale Bewegung voraus, die ihrerseits nur ihre Kraft schöpfen kann aus radikaler Kritik an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Sich wie eine Seuche ausbreitender Protektionismus – wohl eher unter kapitalistischem als unter „linken“ Vorzeichen - würde den Weltmarkt rasch zerstören und die sozialen Widersprüche in den entwickelten kapitalistischen Nationalstaaten und die politischen zwischen ihnen explodieren lassen - ähnlich den Jahren nach 1929. Die Fortsetzung der „kooperativen Weltwirtschaftsordnung“ mitsamt Freihandel wird dagegen die Überakkumulation weiter befördern und mit ihr die Dynamik sich verschärfender Krisen.

Die Orientierung auf die Stärkung nationaler Souveränität zum Zwecke sozialer Reform, das Liebäugeln mit der nationalen Demokratie als einem Mittel, Interessen von Lohnarbeiterinnen in dem betreffenden Land durchzusetzen, haben langfristig keine Aussicht auf Erfolg unter den heutigen Bedingungen weltmarktvermittelter wechselseitiger Verflechtung und Abhängigkeit der Nationalökonomien und der heutigen Wachstumsschwäche des Kapitals allgemein. In dem Maße, in dem er sich nationalistischer Argumente bedient, arbeitet der Protektionismus der Reaktion zu. Der Nationalismus war immer ein bürgerlich-kapitalistisches Projekt, das nur da mitunter gesellschaftliche Fortschritte brachte, wo es sich noch um die Entwicklung zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen und der entsprechenden Produktionsweise durch Wirtschaftsprotektionismus handelte. In entwickelten kapitalistischen Ländern wird der Nationalismus zu einer Ideologie, die „Wirtschaftskriege“ und möglicherweise richtige Kriege zwischen ihnen vorbereitet.

 

Robert Schlosser lebt in Bochum. Er arbeitete viele Jahre – immer wieder unterbrochen durch Pleiten und Arbeitslosigkeit – als Angelernter, Maschinenschlosser und Technischer Redakteur in verschiedenen Industriebetrieben (Stahlwerk, Autofabrik, Flanschenfabrik, Maschinenbaubetrieb, Anlagenbau) und ist heute Rentner. Politische Stellungnahmen und theoretische Artikel finden Interessierte auf seiner Homepage: www.rs002.de/Soziale_Emanzipation/Start.htm