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Solidarität mit den Streikenden im Iran

18. August 2020

Die Streiks und Proteste im Iran brauchen Öffentlichkeit und unsere Unterstützung

Dokumentation eines Flugblatts der iranischen Streikenden, übersetzt und eingeleitet von Nima Sabouri.[1]

Seit Jahren gehören Proteste und Streiks von Arbeiter*innen in verschiedenen Formen und Größen im Iran zum täglichen Leben. Die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse sind immer prekärer und unerträglicher. Löhne werden oft nicht ausbezahlt, über viele Monate müssen sich Familien durch steigende Verschuldung über Wasser halten, und das obwohl sich die Lohnhöhe häufig nur auf ein Viertel bis Drittel der staatlich festgelegten Armutsgrenze beläuft. Auch sind die Arbeitsbedingungen vollkommen ungesichert, ein Großteil der Arbeiter*innen ist über Leiharbeitsfirmen beschäftigt und dort meist gezwungen, Blanko-Verträge zu unterschreiben, so dass sie jederzeit kündbar sind.

Die Proteste hängen mit der verschärften Wirtschaftskrise zusammen, die sich als immer tiefere Klassenspaltung und wachsende Armut zeigt. Die Ursachen sind vielfältig, doch die historische Kombination von neoliberaler Politik, Diktatur und Korruption spielt eine große Rolle.

Die Sanktionen, die infolge des Atomprogramms des Iran und seiner Konflikte mit den USA im Kontext der imperialistischen Machtpolitik im Nahen Osten verhängt wurden, haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten eskalieren lassen. Anders als vom Staat behauptet sind sie aber nicht die Ursachen der Krise.

Die Streiks fanden bisher nur vereinzelt und voneinander getrennt statt. Dadurch konnten ihre Forderungen von den Unternehmern ignoriert werden. Außerdem wurden sie durch politische und strafrechtliche Repression zerschlagen, nicht selten kam es zu hohen Haftstrafen.

Aufgrund dessen haben die Forderungen der Arbeiter*innen trotz der großen Zahl an Streiks und Protesten – in den letzten vier Jahren gab es durchschnittlich drei Streiks pro Tag - kaum Gewicht auf der politischen Ebene gewinnen können. Zudem sind jegliche staatsunabhängigen Organisationen von Arbeiter*innen verboten und werden mit harten Haftstrafen geahndet.  

Nun gibt es eine neue Welle von Arbeitskämpfen, die immer größer wird. Sie wurde von den Arbeiter*innen der Rohrzuckerfabrik Haft-Tapeh in der Provinz Khouzestan angestoßen, die zunächst mit ihren Familien mehr als 50 Tage lang auf die Straße gegangen waren.[2] Die Arbeiter*innen von Haft-Tapeh hatten bereits vor zwei Jahren mit ihren langen militanten Streiks und Protesten die Parole "Brot, Arbeit, Freiheit - Verwaltung durch Räte" landesweit popularisiert.

Im Unterschied zu den bisherigen Streiks zeigen sich die aktuellen stärker vereint und aufeinander bezogen.

So wurde nun erstmals von den militanteren Teilen der streikenden Arbeiter*innen und von einigen linken sozialen Medien ein Generalstreik ausgerufen. Darüber hinaus sind viele der Streikenden in der Ölindustrie tätig, die für den Staat ein sehr wichtiger Sektor ist, und haben entsprechend viel Macht. Gerade deshalb müssen Streiks aus Sicht des Staates mit allen Mitteln verhindert werden. Trotz aller Hoffnung ist also davon auszugehen, dass es zu massiver Repression kommen wird.

Deshalb sollten wir mehr denn je die Stimmen der streikenden Arbeiter*innen verstärken und Solidarität mit ihrem Kampf zeigen. Im Folgenden dokumentieren wir ihren Aufruf dazu.

Nima Sabouri

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Aufruf zur Solidarität mit den Streikenden von Haft Tapeh!

Heute ist der 52. Tag des Streiks der Arbeiter*innen des Agrarunternehmens Haft Tapeh im Iran. Dieser historische Streik ist der Höhepunkt eines jahrelangen Kampfes dieser Arbeiter*innen, um die Privatisierung des Unternehmens zu stoppen und ihre Rechte durch zu setzen. Die Haft Tapeh Gewerkschaft wurde erstmals in den Jahren 1974-75 gegründet. Doch die arbeiterfeindliche Politik der in der Revolution von 1979 an die Macht gelangten anti-revolutionären Kräfte (Islamische Republik) führte schließlich zu ihrer Verfolgung und letztlich Verbot, wie dem Hunderter anderer Gewerkschaften.

In den Jahren von 2005 bis 2006 fanden erstmals wieder Proteste der Arbeiter*innen von Haft Tapeh statt, nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, dass das öffentliche Unternehmen privatisiert werden solle. 2007 bauten sie die Gewerkschaft neu auf. Die Hauptorganisatoren und führende Gewerkschaftsmitglieder wurden von der Geheimpolizei daraufhin verfolgt und festgenommen.[3]

Trotz all dieser Unterdrückung haben die Arbeiter*innen von Haft Tapeh den Kampf gegen die Privatisierung und Zwangsenteignung öffentlichen Eigentums 2018 wieder aufgenommen und belebt. Als Reaktion darauf wurde der Gewerkschaftsführer Ismail Bakhsi verhaftet und unter Folter dazu gezwungen, im nationalen Fernsehen ein “Schuldeingeständnis" abzugeben.

Trotz der heuchlerischen Behauptung der Islamischen Republik, für Arbeiter*innen und Unterdrückte einzutreten, hat sich einmal mehr gezeigt, dass sie in der Realität auf der Seite der Bourgeoisie gegen die Arbeiter*innen steht. Die neoliberale Politik des Regimes, die Millionen von Arbeiter*innen in Armut getrieben und viele Proteste ausgelöst hat, wurde durch deren gewaltsame Unterdrückung fortgeführt. Diese Unterdrückung wird durch den medialen Boykott der pro-imperialistischen Oppositionsmedien ergänzt.

Während sich die Arbeiter*innen von Haft Tapeh bereits seit 52 Tagen im Streik befinden, berichten die genannten Medien weder über die Proteste noch über die Forderungen und boykottieren so den Arbeitskampf. In den seltenen Fällen, in denen diese Arbeiter*innenbewegung überhaupt erwähnt wird, werden nur die Mahnwachen der Arbeiter*innen in Shush City gezeigt und das auf eine Art und Weise, die die öffentliche Meinung in die Irre führt. Der Grund ist klar:

Tatsächlich stimmt die rechte Opposition der Islamischen Republik vollkommen mit dem Regime überein, wenn es um ihre Haltung zu Privatisierungen und der Umsetzung der Befehle von Weltbank und IWF geht. Der einzige Unterschied ist der Versuch der rechten Opposition eine irreführende Dichotomie zwischen „guten Privatisierungen und schlechten Privatisierungen“ herauf zu beschwören, um die verheerenden Auswirkungen dieser Politik zu verbergen.

Auf der anderen Seite bekommt auch die internationale Linke aufgrund des extrem schwachen Zustandes der iranischen Linken nichts von einem solch wichtigen Streik mit. Einem Streik, dessen Hauptforderungen die Aufhebung der Privatisierung, die Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiter*innen, Beendigung der polizeilichen Unterdrückung gegenüber den Organisationen der Arbeiter*innen, Zahlung der überfälligen Löhne und sonstiger Leistungen und schließlich die Organisation der Produktion unter Kontrolle der Arbeiter*innen sind.

Diese fortschrittlichen Forderungen werden von den Massenmedien im Iran nicht widergegeben und die Proteste der Arbeiter*innenklasse auf staatsfeindliche Krawalle reduziert. Gleichzeitig ignorieren auch die kleinen pro-russischen, pro-chinesischen oder sogar pro-Islamische Republik Medien, die vermeintlich als Teil der alternativen Medien in Europa und Nordamerika angesehen werden, diesen Streik komplett, oder schlimmer noch, stellen ihn als ein Regime-Change Projekt der imperialistischen Kräfte dar.

Die Arbeiter*innenklasse widersetzt sich hartnäckig und unabhängig vor unseren Augen der täglichen Unterdrückung und steht dennoch vor einem völligen Boykott und Zensur von allen Seiten. Es ist, als ob sich all diese Strömungen in einem einzigen Punkt einig sind: die Stimmen der Arbeiter*innenklasse und ihrer Aktivist*innen zum Schweigen zu bringen.

Wir fragen unsere internationalen Genoss*innen: Lohnt es sich nicht, diesen mutigen Streik, der seit über 52 Tagen andauert und fortgesetzt wird, bis die Forderungen erfüllt werden, anzuerkennen und ernst zu nehmen? Lohnt es sich nicht, in Solidarität mit ihnen zu stehen?

Die Arbeiter*innen von Haft Tapeh erhalten keinerlei finanzielle Unterstützung von Gewerkschaften oder Institutionen; sie setzen ihren Widerstand und Kampf mit leeren Taschen und leeren Mägen fort. Diese progressiven und bewussten Arbeiter*innen und ihren Kampf aktiv zu ignorieren, führt im Endeffekt dazu, reaktionäre und imperialistische Kräfte zu stärken. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die Parole „Arbeiter*innen aller Länder, vereinigt euch“ nur eine leere romantische Phrase in der Geschichte des Marxismus ist? Oder eine Antriebskraft des Klassenkampfes?

Genoss*innen, wir fordern euch auf, die Stimme der Arbeiter*innen von Haft Tapeh und der iranischen Arbeiter*innenklasse zu sein, auf der ganzen Welt und in allen Sprachen

 

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[1] Das Original auf Farsi sowie türkische und englische Übersetzungen sind auf www.redmed.org zu finden - die Seite selbst wird nicht von den Streikenden betrieben.

Farsi: http://redmed.org/fa/article/hmbstgy-b-krgrn-hft-tph
Englisch: http://redmed.org/article/solidarity-workers-haft-tapeh
Türkisch: http://redmed.org/tr/article/haydi-yedi-tepe-iscileriyle-dayanismaya

[2] Der vollständige Name des Unternehmens heißt Agro-Industrie-Komplex Rohrzucker Haft Tapeh und befindet sich bei der Stadt Shush, in der auch für die iranische Ölindustrie bedeutenden Provinz Khouzestan. Die etwa 5500 Arbeiter*innen des Unternehmens  arbeiten sowohl in der Fabrik selbst, als auch auf den die Fabrik umgebenden mehrere tausend Hektar großen Rohrzuckerfeldern als Landarbeiter*innen.

[3] Der Name der illegalen Organisation der Arbeiter*innen von Haft Tape ist Syndikat der Rohrzucker-Haft-Tapeh Arbeiter*innen.