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Schranken proletarischer Emanzipation - Zur Kritik der Gewerkschaften

22. August 2012
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Wer in einen der aktuellen Arbeitskämpfe involviert ist, sie beobachtet oder in sie zu intervenieren versucht, der kommt kaum um die Gewerkschaften herum. Seien diese nun Vermittler oder Unterstützer, Antreiber oder Abbremser, fast immer sind sie an den Schauplätzen der Kämpfe anzutreffen. Im Bewusstsein der Arbeiterinnen scheinen sie nach wie vor wichtige Institutionen zu sein, die Kämpfe führen oder auf die man sich in den Kämpfen beziehen muss. Und auch in jenem Teil der Linken, der sich auf die Klasse bezieht, haben die Gewerkschaften einen festen Platz, meist als Organe, in denen die Arbeiter das Kämpfen lernen und als Organisation, die heute zwar korrumpierte Führer habe, aber eigentlich das Interesse der Arbeiterklasse vertrete. Seltener trifft man auf die Ansicht, dass die Gewerkschaften Organe der herrschenden Klasse seien, die von außen die Arbeiterklasse bremsen und ihr immer wieder Fesseln anlegen.

Beide Ansichten sind geprägt von einem fundamentalen Missverständnis dessen, was Gewerkschaften eigentlich ausmacht. Denn egal, ob das Proletariat von korrumpierten Funktionären verarscht oder von kapitalistischen Agenten in Fesseln gelegt wird, bleibt es – als auszubeutende Klasse – ein integraler Bestandteil des Kapitalverhältnisses. Ohne Proletariat kein Kapital, ohne Kapital kein Proletariat. Der vorliegende Text will aufzeigen, dass darin der Knackpunkt liegt, um das Wesen der Gewerkschaften ihrem Inhalt nach, aber auch in der Handhabe ihrer Organisierung, zu verstehen. So soll er denn auch nicht als Kritik an einer bürokratischen Entartung, sondern als Auseinandersetzung mit dem Inhalt, der dem Gewerkschaftswesen zugrunde liegt, verstanden werden. Wir beziehen uns dabei auf Entwicklungen und Umstände in der Schweiz, allerdings steht das Beschriebene für Tendenzen, die sich häufig auch in anderen Ländern beobachten lassen.

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Die Kritik an der Bürokratisierung der Gewerkschaften und an der strukturellen Entkoppelung von der Arbeiterklasse ist nicht kategorisch falsch, sondern lediglich verkürzt und oftmals moralisch aufgeladen. Sie soll hier der Vollständigkeit halber aber kurz umrissen werden.

Mit der Entwicklung des Kapitalismus wachsen auch die Gewerkschaften massiv. Sie werden zu Organisationen mit zehntausenden Mitgliedern, mit Funktionären und mit eigenen, von jenen der Klasse verschiedenen, Interessen. Die Funktionärinnen haben die anfallenden Probleme der Gewerkschaften als Unternehmen zu organisieren. Diese Funktionäre werden selbst zu »gewichtigen Personen« und verhandeln mit den Unternehmern auf Augenhöhe. Die Gewerkschaften sind also nicht einfach ein Zusammenschluss von Arbeitern, sondern eine Körperschaft mit dem Interesse, als Dienstleistungsunternehmen weiter zu bestehen und den Fortbestand der reibungslosen Ausbeutung der Arbeitskraft zu gewährleisten. Der Apparat hat eine eigene Tradition, eigene Funktionen und ist oftmals finanziert durch staatlich sanktionierte Abgaben der Arbeiterinnen. Die Gewerkschaftsführerinnen sind die Träger dieser spezifischen Gewerkschaftsinteressen und erfüllen damit eine Funktion, die deutlich über das bloße Vertreten von Arbeiterinteressen hinausgeht. Doch zugleich verfügen die Gewerkschaften auch über eine große Anzahl an untergeordneten Funktionären, die sich häufig als kämpferisch und solidarisch hervortun und an vielen Punkten entgegen den Interessen des gewerkschaftlichen Apparates handeln. Doch trotz dieses individuellen, häufig aufopferungsvollen Engagements der »Basisfunktionäre«, sind sie objektiv für den Apparat notwendig, um den Kontakt zu den Kämpfenden zu pflegen und um der Gewerkschaft die nötige Legitimation gegenüber den Arbeiterinnen zu geben. Bestünde die Gewerkschaft bloß aus Spitzenfunktionärinnen, ihr Ruf wäre in Arbeiterkreisen schnell ruiniert. Solange sich aber noch aufrichtige und bemühte Gewerkschafter um die Arbeiter kümmern, genießt die Institution Gewerkschaft trotz oft sinkender Mitgliederzahlen eine relativ stabile Legitimität.

Die Gewerkschaften sind in ihrer Eigenschaft als spezialisierte Kampforganisation kein integraler Teil der Widerständischen, sondern als übergeordnete Spezialisten getrennt von den Kämpfenden. Nur als solche können sie die von ihnen verlangte Rolle des Vermittlers zwischen den sich widersprechenden Interessen erfüllen. Heute zeigen sich die divergierenden Interessen zwischen dem gewerkschaftlichen Apparat und den Interessen der Kämpfenden in den vereinzelten Kämpfen, die stattfinden. So wurde in Reconvilier1 der bekannte Arbeitskampf, der von der Belegschaft selbständig beschlossen wurde, durch die Gewerkschaft UNIA abgewürgt. Beim über die Landesgrenzen hinaus bekannt gewordenen Streik in Bellinzona2 wurden die Mitglieder des Streikkomitees von der UNIA aus dem Vorstand der lokalen UNIA-Sektion abgewählt und ein solidarischer UNIA-Funktionär aus der Region abkommandiert. In vielen Kämpfen zeigt sich der Widerspruch darin, dass die Gewerkschaften den Arbeitern halbherzige Zusagen oder gar einen Sozialplan als Sieg verkaufen wollen. Nicht selten ist die Ernüchterung bei den Arbeiterinnen groß, wenn sie sich wieder mal von »ihren« Gewerkschaften verraten fühlen. Doch ist es gerade im Interesse der Gewerkschaften als Unternehmen, dass Kompromisse ausgehandelt werden, dass die Interessen zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern angeglichen werden und dass die Kämpfe sich in geregelten Bahnen bewegen. Mehr noch: Die Polizeifunktion der Gewerkschaften setzt sich durch. Diese zeigt sich zwar bereits heute, wenn sie als Ordnungsmacht auftreten und Arbeitskämpfe abwürgen. Doch in ihrer ganzen Qualität wird die repressive und gegen die Arbeiterklasse gerichtete Seite der Gewerkschaften immer erst dort offenbar, wo die Klasse dazu übergeht, gegen den Kapitalismus und ihre Existenz als variables Kapital zu kämpfen.

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Die Kritik am Charakter der Gewerkschaften als eigenständige Unternehmen wird jedoch ihrem Wesen nicht gerecht, sondern erschöpft sich in linken Kreisen gerne in der moralischen Empörung über eine vermeintliche Korrumpierung und Entkoppelung von den Arbeiterinteressen. Im Folgenden soll deshalb eine Kritik entwickelt werden, die die strukturelle Funktion der Gewerkschaften im Kapitalismus und den spezifischen Inhalt ihres Organisationsansatzes zum Gegenstand hat. So soll aufgezeigt werden, dass die Entkoppelung der Gewerkschaften von den Arbeiterinnen in ihrer Funktion im Kapitalismus begründet liegt und deshalb keinen Verrat an ihren ursprünglich hehren Zielen darstellt.

Die Geschichte der Entstehung der Gewerkschaften ist die Geschichte des Kampfes der Proletarier gegen die Zumutungen des Kapitals. Die Gewerkschaften erfüllten eine wichtige Funktion im Kampf um die gemeinsamen Interessen von Lohnabhängigen im Kapitalismus. In und mit den Gewerkschaften kämpften sie mittels Streiks um mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Mitbestimmung. Dadurch konnten die Arbeiter in den einzelnen Branchen und Betrieben ihre kollektiven Interessen artikulieren und zugleich ihre Stärke demonstrieren. Doch die Gewerkschaften waren und sind keine Kampfform der Gesamtklasse. Dreierlei fällt auf, wenn man sie sich diesbezüglich anschaut. Erstens vertreten sie grundsätzlich die Interessen ihrer spezifischen Klientel und vertiefen damit die Zersplitterung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Betriebe und Sektoren, sowie in Gelernte und Ungelernte. Zweitens sind die Gewerkschaften in ihrer Rolle als »Sozialpartner« im nationalen Rahmen entstanden und an diesen gebunden. Sie können zwar – wie in der EU – in einen supranationalen Rahmen eingebunden werden, als Sozialpartner aber können sie den Rahmen, in dem sie als solche funktionieren und anerkannt sind, nicht überschreiten. Internationale Gewerkschaften haben deshalb in der Realität auch nur die Funktion moralischer Mahner, die etwa auf Verstöße geltender Rechte hinweisen. Doch das bewegt sich in aller Regel im Rahmen der zwischenstaatlichen Konkurrenz. Auch die Spaltung der Klasse in Nationen wird somit von den Gewerkschaften verdoppelt. Drittens schließlich ist zu beobachten, dass die Gewerkschaften – da sie sich in ihren Forderungen stets auf den vom Kapitalismus vorgegebenen Rahmen beschränken müssen – ihr Handeln immer an den durch die Konjunktur gegebenen Möglichkeiten ausrichten.

Um das zu verstehen, muss man erkennen, dass die einstmaligen »Schulen des Klassenkampfes« zugleich die Universitäten der Integration ins Bestehende waren. Nicht etwa, weil sie die Arbeiterklasse verraten hätten oder weil die Bürokraten sich hätten kaufen lassen. Die Gewerkschaften sind, wie erwähnt, historisch entstanden, um als Verhandlungspartner Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter, zum Beispiel nach mehr Lohn und kürzeren Arbeitszeiten, durchzusetzen. Ein Verhandlungspartner verliert aber seine Daseinsberechtigung, wenn er die Grundlage der eigenen Forderungen negiert. Die Grundlage für Lohn und Arbeitszeit ist der Kapitalismus selbst. Und somit liegt es in der Logik der Gewerkschaften, dass sie die Arbeiter in diesen Verhältnissen und nicht gegen sie vertreten. Damit werden die Gewerkschaften zu Verwaltern der Arbeiterinnen als variables Kapital – der Arbeitskraft als Ware. Sie sind organisatorischer Ausdruck des beständigen Kampfes um die Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums, um die Höhe der Ausbeutungsrate. In dieser Funktion sind sie auch Mitorganisator der Akkumulation von Kapital – sie sorgen mit dafür, dass der ganze kapitalistische Zirkus am Laufen gehalten wird. Indem die Gewerkschaften die Reproduktion, also die Existenz der Arbeiterklasse sichern, vertreten sie, ähnlich dem Staat, das besondere Interesse des Gesamtkapitals, das nur existieren kann, wenn eine zur Ausbeutung taugliche Arbeiterklasse vorhanden ist. Im konkreten Fall bedeutet das, dass sie gegen die Interessen der einzelnen Kapitale, der einzelnen Unternehmen, kämpfen, die ihrerseits bemüht sind, die Kosten für das variable Kapital mit allen Mitteln zu reduzieren, indem sie beispielsweise versuchen, die Löhne möglichst niedrig und die Arbeitszeiten möglichst lang zu halten. Wenn die Gewerkschaften daher im Namen der materiellen Interessen der Arbeiter objektiv auch für die Reproduktion des variablen Kapitals eintreten, handelt es sich nicht um einfach um Niederträchtigkeit oder Verrat der Gewerkschaften, sondern es ist vielmehr nur der Ausweise ihrer inneren Widersprüchlichkeit. Dieser Widerspruch muss von den Gewerkschaften in der Praxis immer dahingehend aufgelöst werden, die Arbeitskraft in ihrer warenförmigen Gestalt als variables Kapital zu belassen. Denn mit der Selbstaufhebung der Arbeiterklasse wäre auch den Gewerkschaften selbst die Geschäftsgrundlage entzogen; sie sind als Organisatoren des Verhältnisses von Arbeit und Kapital an die Form des variablen Kapitals gebunden.

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Vom gerne beschworenen Doppelcharakter der Gewerkschaften, also der Vorstellung, die Gewerkschaften kämpften gleichermaßen im und gegen den Kapitalismus, erweist sich in der Realität nur der erste Teil als wahr. Im selben Maße, wie die Gewerkschaften an gesellschaftlicher Relevanz gewannen, wurden sie ins Gefüge der kapitalistischen Gesellschaft integriert und zu von Staat und Kapital respektierten Verhandlungspartnern erhoben. Historisch gesehen gab es Situationen, die die Integration der Gewerkschaften besonders förderten. Dabei war nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Dimension entscheidend. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs beispielsweise kam es in verschiedenen Ländern in ganz Europa zu Massenbewegungen. Um diese zu kanalisieren, sahen viele Regierungen die Forderungen nach der 48-Stunden-Woche, die bei Kriegsende von den Gewerkschaften wieder aufgenommen wurde, als eine geeignete Sozialreform. Auch in der Schweiz wurde die 48-Stunden-Woche zu einer Tagesforderung, unter anderem im Landesstreik von 1918. Angesichts der andauernden Kampfbereitschaft innerhalb der Arbeiterschaft hatte die Arbeitszeitverkürzung auch für die Regierung hohe politische Brisanz. Deshalb wurde man auf die Warnungen der Gewerkschaften aufmerksam und drängte Unternehmerorganisationen dazu, einer Arbeitszeitverkürzung zuzustimmen, was dann 1919 in den wichtigsten Branchen auch geschah. Zum Teil kamen Einigungen auch durch Zugeständnisse zustande: Unternehmer, die in ihren Betrieben rationalisieren wollten, gewährten eine Arbeitszeitverkürzung, dafür erhielten sie freie Hand bei ihren Rationalisierungsbestrebungen. Durch dieses Zusammenwirken von Druck und Zugeständnissen wurden die Gewerkschaften stärker in die bestehende Wirtschaftsordnung eingebunden. Viele Unternehmer, beziehungsweise deren Verbände, hatten sich in der Folge des Landesstreiks zum ersten Mal mit Gewerkschaften an den Verhandlungstisch gesetzt. Der Staat fungierte damals wie auch heute in der Regel als Überwacher des Gesamtprozesses, in dem Gewerkschaften und Unternehmen eine Einigung suchen. Auch heute interveniert schon mal die Regierung als Vermittler, wenn keine Einigung erzielt wird. Für den Staat ist es von Interesse, dass die Unternehmen stabile Ausbeutungsverhältnisse anbieten, während die Gewerkschaften im Gegenzug für funktionierende und disziplinierte Arbeiter zu sorgen haben. Beides zusammen sorgt für das Fortbestehen der Gesellschaft in ihrer bisherigen Form. Um die Interessen einander anzugleichen, muss allerdings für das Kapital ein ökonomischer Spielraum bestehen, der in der Krise nun weitgehend weggefallen ist. Aktuelle Rationalisierungen und Auslagerungen haben fast immer einen direkten Arbeitsplatzabbau zur Folge. Und so ist es in der Zwischenzeit auch üblich, dass Unternehmen nicht mehr stabile Ausbeutungsverhältnisse anbieten, sondern Sozialpläne, die den Stellenabbau koordinieren. Die Gewerkschaften haben sich darauf eingestellt, indem sie bei einem drohenden Stellenabbau nun ihrerseits nur noch nach halbgaren Sozialplänen verlangen.

Ein weiteres wichtiges Jahr der Integration der Arbeiterorganisationen in die bürgerliche Gesellschaft war 1937. Vor dem Hintergrund der Krise und drohender Klassenkonfrontationen handelten die Spitzen des Unternehmerverbandes der Maschinenindustrie und der Branchengewerkschaft ein Friedensabkommen aus. Dieses Abkommen verpflichtete Gewerkschafter und Unternehmer, in Zukunft Konflikte im direkten Gespräch oder über Schlichtungsstellen auszutragen und keine Arbeitskampfmaßnahmen mehr zu ergreifen. Zur gleichen Zeit kündigte sich bei der Firma Sulzer in Winterthur ein Streik für Lohnerhöhungen an. Dieser hätte das Abkommen gefährdet. Die Gewerkschaft arbeitete eng mit der Geschäftsleitung zusammen und verhinderte den Streik unter Aufbietung sämtlicher formaler und propagandistischer Mittel. Der knappe Entscheid der Belegschaft in der dritten Urabstimmung gegen den Streik hatte Signalwirkung: Er wurde zum Gründungsmythos der Sozialpartnerschaft in der Schweiz, zum »Rütli des 20. Jahrhunderts« verklärt. Doch entgegen dem Mythos entstand die Sozialpartnerschaft nicht im friedlich-schiedlichen Einvernehmen zwischen Arbeit und Kapital. Vielmehr trugen verschiedene Aspekte zu ihrer Durchsetzung bei. Repression spielte dabei eine wichtige Rolle: 1941 wurden alle kommunistischen Aktivitäten in der ganzen Schweiz verboten. Über die nationale Mobilmachung zur »geistigen Landesverteidigung« wurde das Proletariat auf ideologischer Ebene auf die Schweiz eingeschworen und dergestalt der deutschen Volksgemeinschaft eine schweizerische entgegengesetzt. Die Gewerkschaften hatten ebenfalls ein Interesse an der Institutionalisierung einer Sozialpartnerschaft. Damit waren sie endlich als Verhandlungspartner von Staat und Kapital anerkannt. Die Arbeiterklasse lehnte sich zwar hier und da gegen den Entzug ihrer Autonomie auf, war aber zu sehr geschwächt, um diese Entwicklung zu verhindern. Die Sozialpartnerschaft wurde also in der Schweiz durch Repression und Ideologie durchgesetzt. Materiell brachte sie den Arbeiterinnen vorerst keine Verbesserung, dafür waren die ökonomischen Spielräume einfach nicht vorhanden. Diese gab es erst wieder in der Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg, in der sich die Sozialpartnerschaft als nützlicher Standortfaktor erwies und allgemeine Akzeptanz erfuhr.

Mit dem Wegfall der ökonomischen Spielräume des Kapitals und dem vermehrten Auftreten von Klassenkämpfen ab den 1970er Jahren zeigten sich erste Risse in der Sozialpartnerschaft. Dennoch sind die Gewerkschaften heute nach wie vor gesellschaftlich integriert, auch wenn die Krise das Kapital mehr und mehr in seinen Möglichkeiten beschränkt. Das führt in der Praxis immer wieder zu verrückten Situationen, wenn die Gewerkschaften auf ihrem Recht als Verhandlungspartner beharren, die Gegenseite aber keine Zugeständnisse machen kann. So sind die Gewerkschaften teilweise gezwungen, auf ein Mittel zurückzugreifen, das für sie immer bloß die ultima ratio war, wenn Verhandlungen nicht fruchtbar waren: den Streik. Wenn heute Gewerkschaften in der Schweiz wieder kämpferischer auftreten, so ist es dieser Zwangssituation wie auch dem vermehrten Brodeln an der Basis und dem Kampf gegen sinkende Mitgliederzahlen geschuldet.

An dieser Stelle ein kurzer Exkurs zum Streik, der das Kampfmittel der Gewerkschaften darstellt: Wenn Verhandlungen platzen, dann mobilisieren die Gewerkschaften ihre Basis, die zu diesem Anlass mal etwas Dampf ablassen darf. Doch der gewerkschaftlich orchestrierte Streik – im Gegensatz zum wilden Streik – zielt immer auf eine für beide Seiten akzeptable Vereinbarung. Die Gewerkschaften geben die Zügel nie aus der Hand und leiten die mobilisierte Wut ihrer Basis immer in die Bahnen der sozialpartnerschaftlichen Aushandlung eines Kompromisses. So fügt der gewerkschaftliche Streik der Gegenseite, dem Unternehmen, einen kontrollierten Schaden zu, um ihm klar zu machen, dass ein »vernünftiger« Kompromiss ihm billiger zu stehen kommt als ein langfristiger Streik. Insofern ist ein gewerkschaftlicher Streik immer so etwas wie ein »Warnstreik«, der darauf abzielt, die Gegenseite für einen Kompromiss einsichtig zu machen. Darüber hinaus geht er nicht.

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Die Gewerkschaft ist nicht bloß an den Kapitalismus gebunden, sie ist von seinem guten Funktionieren abhängig: Wo die Wirtschaft brummt, können auch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen erstritten und die Basis zufrieden gestellt werden. Dies ist ein Grund, warum die Gewerkschaften ihre Aktivitäten immer mit der Konjunkturlage und dem Interesse der nationalen Ökonomie abgleichen und eigene – in der Regel keynesianisch orientierte – Wirtschaftsexperten beschäftigen. Wenn das Kapital in eine Krise gerät, werden nicht bloß die möglichen Errungenschaften erheblich geringer, auch die Kampfbedingungen werden härter. Dieser Zusammenhang ist nicht bloß ein Phänomen der jüngeren Geschichte der Gewerkschaften. Exemplarisch zeigte sich das faktisch konjunkturkonforme Handeln in der turbulenten Zeit um den Ersten Weltkrieg: Während die Gewerkschaften zu Beginn des Krieges im Rahmen von Kriegswirtschaft und Wirtschaftskrieg ihre Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen zurück nahmen, traten sie während des kurzen Aufschwungs 1919/1920 wieder mit der früheren Forderung nach der 48-Stunden- Woche hervor. Aufgrund der vielen wilden Streiks zwischen 1917 und 1920 mussten sie dies aber auch tun, wollten sie das Feld nicht radikaleren Kräften überlassen. Als andererseits 1920/21 der Aufschwung durch eine Deflation abgelöst wurde und sich die Exportindustrie durch Kostensenkung retten wollte, lehnten die Gewerkschaften zwar Lohnsenkungen offiziell ab, bekämpften sie aber kaum aktiv. Es liegt in der Logik der Gewerkschaften, dass sie nicht, ohne ihre Funktion gänzlich zu ändern, gegen die Konjunkturentwicklung agieren können. Sie verhandeln lediglich innerhalb eines bestimmten, von der krisenhaften Entwicklung der Ökonomie vorgegebenen, Spielraums. Dieser Spielraum kann zwar temporär gesprengt werden, muss aber letztlich wieder auf das entsprechende Maß zurück gestutzt werden. Die Gewerkschaften definieren dabei die Grenzen eines Kampfes, sind aber zugleich Ausdruck der Grenze der Autonomie der Kämpfenden in zweifacher Hinsicht: Von der Form her, indem die Arbeiter, anstatt sich selber zu organisieren, ihre Interessen von den Gewerkschaften vertreten lassen. Damit einher geht auf inhaltlicher Ebene eine Beschränkung der Forderungen auf den vorgegebenen Rahmen der kapitalistischen Entwicklung. Eine tatsächliche Autonomie, die sowohl mit der formellen Vereinnahmung als auch mit der inhaltlichen Beschränkung auf den kapitalistischen Rahmen bricht, ließe sich nicht mehr integrieren.

In der Krise tritt der Widerspruch, in dem sich die Gewerkschaften bewegen, offen zu Tage. Wenn die Gewerkschaften einerseits den offenen Verschleiß der von ihnen organisierten Arbeitskraft verhindern oder mindestens abmildern, gleichzeitig aber auch dem Überleben des Unternehmens Rechnung tragen müssen, wird ihr Verhandlungsspielraum immer kleiner. In solchen Situationen wird aus einem Sozialplan oder der Halbierung der Zahl der Entlassenen schnell mal ein Sieg. Ließe eine Gewerkschaft diese ganze Rechnerei sein und entzöge den Unternehmern den Boden, wäre sie also eine konsequente Vertretung der Interessen der Klasse, so würde sie sich als Organisation längerfristig schaden. Weil im Kapitalismus so ziemlich alles abhängig ist von der gelungenen Vermehrung des Geldes, würde sie bei einer für das Unternehmen unprofitabel gestalteten Produktion längerfristig ihre Mitglieder viel massenhafter in die Arbeitslosigkeit schicken, als sie es bei den aktuellen »Siegen« schon tut. Das würde dann auch das in sie gesetzte Vertrauen des Staates, eine anerkannte Ordnungsmacht im Klassenkampf zu sein, untergraben. Die Gewerkschaftsfunktionäre sind sich durchaus ihrer relativen Schwäche bewusst, sie können ihrem Gegner keinen ernsthaften Schaden zufügen, ohne selber Schaden zu nehmen; sowohl als Partner im Verhandlungszirkus als auch als Unternehmen, das davon abhängig ist, seiner Klientel halbwegs annehmbare Arbeitsplätze zu verkaufen.

Vor dasselbe Problem sind die Kämpfenden selbst gestellt: Sie können ihr Unternehmen nicht kaputt streiken, ohne selber Schaden zu nehmen. Erst eine tatsächlich bedingungslose Vertretung ihres Standpunktes könnte eine über den Kapitalismus hinausweisende Perspektive und die Aussicht auf eine Gesellschaft jenseits von Lohn und Profit eröffnen. Die Lösung liegt nicht in der bloß theoretischen Vorwegnahme einer neuen Gesellschaft. Erst wenn die kommunistische Bewegung die Formen einer künftigen Gesellschaft praktisch antizipieren kann, entledigt sich die Arbeiterklasse der Zwänge des Kapitals. Bis dahin bleiben die Arbeiterinnen und ihre Reproduktionsbedingungen in der Logik der kapitalistischen Akkumulation gefangen, da hilft auch keine noch so gut gemeinte Aufklärung marxistischer Agitatoren.

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Im selben Zwiespalt zwischen kapitalistischer Realität und einer über sie hinausweisenden Perspektive befinden sich auch die syndikalistischen Organisationen. Dass sich die syndikalistischen Organisationen immer mal wieder als die besseren Gewerkschaften betiteln, ist weniger ein Betriebsunfall als vielmehr der Logik ihres Organisationsansatzes geschuldet. Programmatisch verschrieben und verschreiben sie sich zwar der Überwindung des Kapitalismus. Doch je mehr sie versuchen, institutionalisierter Ausdruck der alltäglichen Konflikte im Betrieb zu sein, desto mehr verlagern sie ihre Schwerpunkte weg von einer revolutionären Tätigkeit hin zu einem pragmatischen Reformismus. In der konkreten gewerkschaftlichen Arbeit sind sie gezwungen, als verlässlicher Verhandlungspartner aufzutreten, der mit der Gegenseite Verträge aushandelt. Doch diese Verträge wirken, wie jedes Vertragsverhältnis, nach zwei Seiten. Und so sind denn auch die syndikalistischen Organisationen grundsätzlich dem Mechanismus unterworfen, dass nur denjenigen vom Kapital Zugeständnisse gemacht werden, die im Gegenzug disziplinierte Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Auch revolutionäre syndikalistische Organisationen können sich dieser Logik nicht entziehen.

Das soll natürlich nicht dazu führen, dass man sich den notwendigen Arbeitskämpfen entzieht. Es stellt sich aber die Frage, ob revolutionäre Betriebsarbeit in institutionalisierter Form längerfristig überhaupt möglich ist. Historisch haben sich die Arbeiter immer nur in relativ kurzen Zeitabschnitten, während derer sich die gesellschaftlichen Konflikte zuspitzten, in einem revolutionär-syndikalistischen Zusammenhang organisiert. In Zeiten, in denen die Klassenkämpfe aus revolutionärer Perspektive auf einem qualitativ niedrigeren Niveau stattfanden, blieb die Rolle der syndikalistischen Organisationen marginal. Dieser Sachverhalt lässt sich dadurch erklären, dass sich die syndikalistischen Organisationen programmatisch ganz grundsätzlich von den herkömmlichen Gewerkschaften unterscheiden. So streben sie die Überwindung des Kapitalismus an und haben deshalb genau in den Zeiten den größten Zulauf, in denen der Kapitalismus als Produktionsweise auch von den Massen in Frage gestellt wird. Doch wird nicht gerade zu so einem Zeitpunkt der Fokus des Syndikalismus auf die Betriebe und Branchen hinfällig? Gerade dann wird doch der Kapitalismus in seinem ganzen Funktionieren in Frage gestellt, die Beschränkung des Menschen auf seine Funktion als Arbeiterin oder Arbeiter, den oder die es auszubeuten gilt. Es ist zumindest zu hinterfragen, ob sich die Organisierung zu einem solchen Zeitpunkt noch entlang gewerkschaftlicher Felder orientieren soll, wo doch die Auseinandersetzung schon auf einem ganz anderen Niveau stattfindet – auf einem politischen, auf einem der Infragestellung des Ganzen.

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Welche Perspektive bleibt überhaupt, wenn man die gewerkschaftlichen und syndikalistischen Organisationen als untauglich für den Kampf gegen den Kapitalismus erkannt hat? Der Rückzug auf eine – von der eigenen Schwäche motivierte – Position, die permanente Organisationen ablehnt, wenn sie nicht aus realen Konflikten erwachsen, ist keine Alternative: Einerseits ist man als Revolutionär ohnehin gezwungen, sich mit anderen zu organisieren, wenn man nicht völlig isoliert bleiben will. Andererseits ist aber auch die Perspektive der Selbstorganisation der Produktion durch die selbsttätigen Räte in einer Welt, deren Produktion ausschließlich nach akkumulationstechnischen Maßstäben organisiert ist, keine wirklich rosige Aussicht. Die Produktion müsste heute gänzlich neu organisiert werden, statt die Produktionsstätten selbst zu verwalten. Heute muss die Negation des Bestehenden im Zentrum stehen: Die Vernichtung der alten Welt, um aus den Trümmern eine neue nach den Bedürfnissen der Menschen aufzubauen. In Zeiten, in denen die revolutionäre Bewegung auf eine Fußnote des Weltgeschehens reduziert ist, kommt in diesen Worten vor allem die eigene Schwäche zum Ausdruck. Es scheint vermessen, bereits heute die konkrete Form einer künftigen Organisation der Gesellschaft theoretisch vorwegzunehmen: Man ist auf die Negation zurückgeworfen, bis sich in einer möglichen Verallgemeinerung der Kämpfe gegen diese Welt Strukturen abzeichnen, die eine künftige Gesellschaft antizipieren könnten.

Die Beteiligung und Intervention von Revolutionären in die heute vermehrt auftretenden Kämpfe ist geboten. Doch gleichzeitig scheint die Frage ungelöst, was sich aus diesen Kämpfen überhaupt für eine Perspektive entwickeln kann. Faktisch handelt es sich zum allergrößten Teil um reine Abwehrkämpfe, die in ihrem Resultat aus revolutionärer Sicht meist unerheblich sind und auf der ideologischen Ebene noch nicht mal die Mär von der Betriebsgemeinschaft zu durchbrechen vermögen. Zwar sind die größtenteils unabhängig von den Gewerkschaften geführten Kämpfe zumindest in der Schweiz meist die erfolgreicheren. Doch diese Autonomie bedeutet faktisch noch nicht viel mehr, als dass der Standpunkt der Kämpfenden mit größerer Beharrlichkeit vertreten wird. Aus den konkreten vereinzelten Erfolgen resultiert lediglich eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen unter den bestehenden Verhältnissen, sonst folgt aus dieser formellen Autonomie erst einmal nichts, zumindest nicht automatisch. Zwar mögen in den Kämpfen gemeinsame Interessen und die reale Macht der Klasse zum Ausdruck kommen und mag so etwas wie die Selbsttätigkeit der Klasse zumindest am Horizont aufscheinen. Doch eine kommunistische Revolution kann erst dann überhaupt in den Bereich des Möglichen rücken, wenn die Arbeiter zu erkennen beginnen, dass sie, wenn sie das ewig wiederkehrende Elend abschaffen wollen, nicht im, sondern gegen das Kapitalverhältnis kämpfen müssen. Diese Erkenntnis wird aber nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel in die Köpfe der Arbeiter einschlagen. Der Umsturz der Verhältnisse wird erst an dem Punkt wieder auf der historischen Tagesordnung stehen, an dem die Kämpfe sich verallgemeinern und dadurch die Widersprüche offen zu Tage treten. Es bliebe heute, ganz nüchtern betrachtet, eigentlich gar kein anderer Ausweg mehr übrig: Die Forderungen von Kämpfenden stehen häufig im Widerspruch zu den in die Krise geratenen Verwertungsbedingungen des Kapitals. Das kommt am sinnfälligsten zum Ausdruck, wenn sich Arbeiter gegen die Schließung unprofitabler Standorte zur Wehr setzen. Wenn sich allerdings die Kämpfenden erfolgreich gegen die Pläne und Zwänge des Kapitals durchsetzen, dann scheint gerade in diesem scheinbar aussichtslosen Kampf eine Macht der Arbeiterinnen durch, die über die bloße Verhandlung mit der Gegenseite hinaus weist. So geschehen zum Beispiel beim Streik im Industriewerk in Bellinzona, aus dem eine Erfahrung zurückblieb, die weit über das Tessin hinaus an Bedeutung gewinnen konnte. Wo sich aber ein Unternehmen nicht mehr in der Konkurrenz behaupten kann und die Arbeitsplätze auch mit noch so großem Kampfwillen nicht bewahrt werden können, da müssen Kommunistinnen wenigstens offen aussprechen, dass es innerhalb des Kapitalismus keine erstrebenswerte Perspektive gibt.

Eiszeit

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  • 1. Im Jahr 2006 fand bei Swissmetal in Reconvilier ein über 30-tägiger Streik mit Betriebsbesetzung gegen die Restrukturierungspläne des Unternehmens statt. Der Arbeitskampf war von der Belegschaft autonom beschlossen worden und der Gewerkschaft UNIA ein Dorn im Auge, weil diese auf eine Mediation (Verhandlung zwischen Unternehmer, Staat und Gewerkschaft), statt auf Arbeitskampf aus war. Sie bezeichnete den Streik als perspektivlos und setzte ihren Plan zur Wiederaufnahme der Arbeit in einer Betriebsversammlung durch, indem sie zwischen den Zeilen die Drohung aussprach, den Streik bei einer Weiterführung nicht mehr zu unterstützen. So fügten sich die Arbeiterinnen dem Entscheid der UNIA.
  • 2. Der Streik von 2008 im Industriewerk Bellinzona war erfolgreich, sämtliche Arbeitsplätze blieben erhalten. Auch dieser Streik entstand spontan. Da die Belegschaft über eine stark ausgeprägte Autonomie verfügte (oberste Instanz für alle Entscheidungen war die täglich stattfindende Streikversammlung) und dank großer Spenden aus der Bevölkerung finanziell relativ unabhängig war, konnten die Gewerkschaften UNIA und SEV nur beschränkten Einfluss nehmen. Doch die Protagonisten des Streiks wurden ein Jahr danach abgestraft. Mitglieder des Streikkomitees wurden in einem veritablen Putsch (durch Wahlvorgaben von Seiten der UNIA) aus dem Vorstand der lokalen UNIASektion abgewählt und der kämpferische UNIA-Funktionär, der den Streik unterstützt hatte, wurde aus dem Tessin nach Bern versetzt.