Arbeitszeitrechnung und ökonomische Rationalität in einer postkapitalistischen Gesellschaft

04. November 2019

Ein Kommentar zur Kritik von Hermann Lueer am Text »Umrisse der Weltcommune«

Welche Bedeutung würde die Arbeitszeit in einer befreiten Gesellschaft spielen? Müsste sie strikt erfasst werden, um Planung zu ermöglichen, was hieße überhaupt „Planung“? In der Diskussion um unseren Text „Umrisse der Weltcommune“ (Kosmoprolet 5, 2018) hat sich dies als ein zentraler Streitpunkt herauskristallisiert. Nachdem Hermann Lueer uns vorgeworfen hat, wir wollten jedwede „Rationalität der Wirtschaft“ zertrümmern, dokumentieren wir hier eine Entgegnung von Raoul Victor (Paris), auf dessen Überlegungen zu dieser Frage wir uns bezogen hatten.

Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft

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Die von Lueer in seiner Kritik an den Thesen zu Weltcommune behandelten Fragen, die die Notwendigkeit, gar Möglichkeit einer Arbeitszeitrechnung sowie die „Rationalität der Wirtschaft“ in einer postkapitalistischen Gesellschaft betreffen, verdienen – so finde ich – großes Interesse. Doch bevor ich mich diesen Fragen zuwende, möchte ich zunächst kurz auf seine Vorstellung von wirtschaftlicher Planung eingehen.

Über wirtschaftliche Planung

Lueer bezieht sich in seinem Text immer wieder auf „gesellschaftliche“ und „gemeinschaftliche Planung“ oder auf „arbeitsteilige Produktionsplanung“, so dass es scheint, als sähe er in dieser Planung das Hauptcharakteristikum einer nicht-marktförmigen Gesellschaft.

Tatsächlich sahen die etatistischsten Strömungen des Marxismus, insbesondere während des 20. Jahrhunderts, in der Wirtschaftsplanung das stärkste Gegengift gegen die kapitalistische Marktwirtschaft: Kapitalismus bedeutete Anarchie und verheerende Krisen, dagegen hieß Planung die bewusste Lenkung der gesellschaftlichen Produktion zum Nutzen aller. Die Fünfjahrespläne der Sowjetunion und Chinas waren entsprechende „realsozialistische“ Modelle einer sehr vertikalen Planung, die auch in dem Sinne totalitär war, dass sie beanspruchte, sämtliche Aspekte und Momente der gesellschaftlichen Produktion zu umfassen.

Vielleicht verstehe ich Lueer ja falsch, was auch an der Übersetzung liegen mag[i]; einige seiner Formulierungen hinterlassen jedenfalls den Eindruck, dass sich manche Aspekte seiner Vorstellungen von Wirtschaftsplanung aus jenen Quellen speisen. Ein Beispiel:

Die individuelle Arbeit der Gesellschaftsmitglieder ist hier nicht mehr Privatarbeit, die erst über den Tausch ihre gesellschaftliche Vermittlung sucht, sondern bereits unmittelbar Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, da sie als individuelle Arbeit bereits im Rahmen der gemeinschaftlichen Planung geleistet wird. (…)

Sie [man weiß hier nicht so recht, wen er damit meint] können es beispielsweise bei der Bereitstellung der Information über die Arbeitszeiten belassen und auf den vernünftigen Umgang hiermit setzen. Sie können eine individuelle Unterdeckung der Arbeitsbeteiligung im Verhältnis zum Konsum auch zum Anlass für Kritik nehmen oder den Zugang zu Konsumtionsmitteln in Relation zum individuellen Beitrag zur gesellschaftlichen Arbeit beschränken.

In einer postkapitalistischen Gesellschaft sollte es aber weniger um „gemeinschaftliche Planung“ als um Programme für die gesellschaftliche Produktion gehen, die weder vertikal noch totalitär ausfallen dürfen, was nicht heißen soll, dass keine Entscheidungen auf globaler Ebene getroffen werden könnten. Die neuen Kommunikationsmittel und Informationsverarbeitungssysteme eröffnen auf diesem Gebiet hervorragende Möglichkeiten, insbesondere wenn es darum geht, alle, die es wünschen, an der ständigen Ausarbeitung der verschiedenen Programme zu beteiligen, aber auch um individuelle, auf bestimmte Bereiche beschränkte und lokale Initiativen zu berücksichtigen und zu fördern.

Dazu später mehr; erstaunlich ist jedenfalls, wie Lueer so gut wie gar nicht auf die modernen Produktionsmittel Bezug nimmt, sodass sein Text den Eindruck hinterlässt, er hätte auch vor anderthalb Jahrhunderten geschrieben worden sein können.

 

Das Maß der „Arbeit“ in der postkapitalistischen Gesellschaft

Doch zurück zu seiner Kritik an den „Umrissen der Weltcommune“. Luuer schreibt:

Mit dem Verweis auf den Beitrag von Raoul Victor, „The Economy in the Transition to a Communist Society“, behauptet ihr im Folgenden vielmehr, die Arbeitszeitrechnung erweise sich „auf dem Niveau einer arbeitsteilig-hochtechnisierten gesellschaftlichen Produktion als Ding der Unmöglichkeit“.                                                                                                                  Wäre das so, dann müsste die Ökonomie im Kapitalismus wie auch im Kommunismus im Chaos versinken. Ohne den Tauschwert (…) und ohne die Arbeitszeit als direktes und bewusstes Maß einer gemeinschaftlichen Produktionsplanung ließe sich weder im Kapitalismus noch im Kommunismus rationell aufwandsbezogen entscheiden, welche der Vielzahl möglicher Substitute und Produktionsverfahren vorteilhaft wären. Der Kapitalismus beweist mit seiner tauschwertbezogenen Arbeitszeitrechnung für sich täglich das Gegenteil der behaupteten Unmöglichkeit. Wäre mit der Abschaffung der Geldrechnung die Arbeitszeitrechnung auf dem Niveau einer arbeitsteilig-hochtechnisierten sozialistischen Produktion ein Ding der Unmöglichkeit, dann hätte Ludwig von Mises recht: Der Sozialismus wäre dann die Aufhebung der Rationalität der Wirtschaft.

Tatsächlich wird aber in „Umrisse zur Weltcommune“ über die postkapitalistische Gesellschaft gar nicht behauptet, dass es dort kein Maß der Arbeitszeit gäbe. Lueer selbst zitiert sogar die Stelle: „Natürlich bedarf die planvolle Produktion in der Commune grober Vorstellungen darüber, wieviel Arbeitsaufwand etwas erfordert.“ Die Frage ist aber, was man da misst und wie man das macht.

Lueer behauptet wiederholt, dass dies wie im Kapitalismus anhand des Maßstabes der „abstrakten Arbeit“ getan werden muss, und weiter, dass die abstrakte Arbeit gar kein Spezifikum des Kapitalismus sei, sondern ein objektives Maß, das in der postkapitalistischen Weltcommune verwendet werden kann und soll:

Es ist ein Missverständnis, abstrakte Arbeit und die Zeit als ihr Maß mit Wertproduktion gleichzusetzen. In einem Produktionsverhältnis, das durch Privateigentum und Warentausch bestimmt ist, ist die abstrakte Arbeit zwar die Substanz des Werts, die abstrakte Arbeit begründet aber nicht das Produktionsverhältnis. Ähnlich wie bei den Maschinenstürmern, die angesichts der Folgen der kapitalistischen Anwendung der Maschine die Maschinen zerstören wollten, ist es daher ein Fehler, die Abstraktion von konkreten Arbeitsschritten und ihre zeitliche Zusammenfassung als Mittel der Produktionsplanung zu verwerfen.

Offenbar versteht Lueer den marxistischen Begriff der abstrakten Arbeit nicht so recht. Entgegen dem, was er an verschiedenen Stellen seines Textes behauptet, ist der Begriff der abstrakten Arbeit aufs Innigste mit der Produktion des Tauschwerts verknüpft. Er ist nur sinnvoll zu verwenden, wenn man erklären will, wie innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse der Wert entsteht. Marx bestimmt den

Unterschied zwischen der Arbeit, sofern sie in Gebrauchswerten, und der Arbeit, sofern sie in Tauschwerten resultiert. Um die Tauschwerte der Waren an der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit zu messen, müssen die verschiedenen Arbeiten selbst reduziert sein auf unterschiedslose, gleichförmige, einfache Arbeit, kurz auf Arbeit, die qualitativ dieselbe ist und sich daher nur quantitativ unterscheidet. (MEW 13, S. 18) Tauschwert setzende Arbeit ist daher abstrakt allgemeine Arbeit. (MEW 13, S. 17)

Isaak Rubin, der 1937 unter Stalin hingerichtete russische Ökonom, schrieb in seinen 1928 veröffentlichten Studien zur Marxschen Werttheorie (Frankfurt a. M. 1973) dazu: „Um die Marxsche Theorie der abstrakten Arbeit adäquat zu erfassen, dürfen wir in keinem Augenblick vergessen, daß Marx zwischen der Kategorie der abstrakten Arbeit und dem Wertbegriff eine unlösbare Verbindung herstellte.“ (S. 96) Rubin fasst abstrakte Arbeit als „ein Spezifikum der Warenproduktion“ (S. 100): „Abstrakte Arbeit und Wert sind gesellschaftlicher und nicht technisch-materieller oder physiologischer Natur. Der Wert ist eine gesellschaftliche Eigenschaft (oder eine gesellschaftliche Form) eines Arbeitsprodukts, so wie die abstrakte Arbeit eine ‚gesellschaftliche Substanz‘ darstellt, die diesem Wert zugrunde liegt.“ (S. 118)

Um die in einer Ware enthaltene Arbeitsmenge mit der in einer anderen enthaltenen vergleichen zu können, müssen Marx zufolge, wie Rubin paraphrasiert, beide auf ein gemeinsames Maß „reduziert“ und all ihrer „technisch-materiellen und physiologischen Aspekte“ entkleidet werden. (S. 123) Wenn zum Beispiel eine Ware das Resultat einer „komplizierten“ Arbeit ist, zu ihrer Ausführung also besondere Fertigkeiten und eine fortgeschrittenere Ausbildung vonnöten sind, und eine andere Ware das Ergebnis „einfacher“ Arbeit, die keinerlei Fachwissen verlangt, so können beide nur dadurch quantitativ verglichen werden, dass die erste Arbeit auf den Ausdruck einfacher Arbeit reduziert wird. Es ist diese Reduktion der unterschiedlichen in den Waren enthaltenen Arbeiten auf „einfache Arbeit (…), die qualitativ dieselbe ist und sich daher nur quantitativ unterscheidet“ (MEW 13, S. 18), auf abstrakte Arbeit also, die erst ihren Vergleich und ihren Austausch erlaubt.

Wie diese Reduktion geschieht, hat Marx nie wirklich ausgeführt. In der bereits zitierten Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie schreibt er dazu: „Die Gesetze, die diese Reduktion regeln, gehören noch nicht hierher. Daß die Reduktion aber stattfindet, ist klar: denn als Tauschwert ist das Produkt der kompliziertesten Arbeit in bestimmter Proportion Äquivalent für das Produkt der einfachen Durchschnittsarbeit, also gleichgesetzt einem bestimmten Quantum dieser einfachen Arbeit.“ (MEW 13, S. 19)

Maximilien Rubel, der sich mit dieser Frage eingehend beschäftigte, bemerkte dazu schlicht: „Marx hat nicht Wort gehalten“. Er hat nie „die Gesetze formuliert, die diese Reduktion bestimmen“, auch wenn er an mehreren Stellen im Kapital darauf zu sprechen kommt (in: Karl Marx - Œuvres - Économie, Paris 1963, S. 1604; 1636). Laut Rubel könnte dies der Tatsache geschuldet sein, dass Marx das Buch über die Lohnarbeit, das er im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie ankündigte, nicht geschrieben hat. In Wirklichkeit ist es aber praktisch unmöglich, zu berechnen, wie viele Tage Arbeit eines Straßenfegers (einfache Arbeit) dem Arbeitstag eines Ingenieurs (komplizierte Arbeit) entsprechen – von der Unmöglichkeit einer solchen Berechnung im Weltmaßstab ganz zu schweigen. Marx bemerkt: Dass „die Reduktion aber stattfindet, ist klar“ (MEW 13, S. 19). Doch das Ergebnis dieser Reduktion kann nicht anderswo als auf dem Markt in Erscheinung treten, in der Form des Tauschwerts und des Preises. Es liegt in der Natur der Sache, dass in einer Gesellschaft, die weder Warenwerte noch Preise kennt, dieser Mechanismus der Reduktion nicht existiert.

Lueer behauptet, dass das Messen der abstrakten Arbeit möglich sei und der postkapitalistischen Gesellschaft als Stütze für die Planung der Produktion wie auch der Distribution dienen könne. Aber das einzige Argument, dass er für den Nachweis dieser Möglichkeit vorbringt, ist: „Der Kapitalismus beweist mit seiner tauschwertbezogenen Arbeitszeitrechnung für sich täglich das Gegenteil der behaupteten Unmöglichkeit.“  Diese Tauschwertbezogenheit ist jedoch nichts anderes als ein Verweis auf den Marktmechanismus. Die Kapitalisten messen keine „abstrakte Arbeit“, sondern den Marktwert, den Preis, den sie die Arbeitskraft kostet – eine Kraft, die im Kommunismus nicht mehr zu Verkauf steht.

 

Zweierlei ökonomische Rationalität

Luuer ruft nun aber den österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises, einen der Hauptapologeten des Kapitalismus und Liberalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Zeugen auf. Den Sozialismus sah er zum Scheitern verurteilt, da dieser sich durch die Abschaffung des Marktes und seiner Mechanismen, insbesondere des „Preissystems“, der für die „rationelle“ Wirtschaftsführung unerlässlichen Informationen und Mittel der „Wirtschaftsrechnung“ begibt.

Bevor wir zu der Frage kommen, was denn eine Wirtschaftsrechnung oder die wirtschaftliche Rationalität in einer postkapitalistischen Gesellschaft sein könnte, sollten wir uns vergegenwärtigen, wie von Mises diese Rationalität versteht.

In dem System, für das er mit Leidenschaft eintritt, ist das Ziel der Produktion die Rentabilität des Kapitals, das Erzielen von Profit, der die Fortführung der Akkumulation des Kapitals gestattet. Wirtschaftlich rationell ist, was einen Profit ermöglicht, eine ausreichende Rendite in einer gegebenen, möglichst kurzen Zeit. Aus diesem Grund ist eine kurzfristige Perspektive „rationeller“ als eine langfristige. Die Preise liefern hierfür die entscheidenden Informationen, besonders in Hinsicht auf die Produktionskosten, worunter auch die Kosten der Arbeitskraft gefasst sind. Nur so können selbst noch offenkundige Abstrusitäten als wirtschaftlich „rationell“ gelten, sei es dass Unmengen von Waren auf tausenden hochumweltschädlichen Containerschiffen aus Ost-Asien transportiert werden, weil dort die Lohnkosten so niedrig sind, sei es die massive Verbrennung von Kohle und Erdöl, die das Überleben des Planeten bedroht, aber weiterhin stattfindet, nur weil sie preiswerter, „rationeller“ ist, sei es die Vernichtung ganzer Lagerbestände an Waren, deren Preise einzubrechen drohen, sei es die Arbeitslosigkeit von Millionen von Menschen, für die das Kapital keine „rationelle“ Verwendung hat, und dergleichen mehr.

Die „ökonomische“ Rationalität einer wahrhaft kommunistischen Gesellschaft wird kaum mehr etwas gemein haben mit der des Kapitalismus, insbesondere in Hinblick auf die „Arbeit“, deren Charakter sich von Grund auf gewandelt haben wird. In einer kommunistischen Gesellschaft wäre der Begriff „Arbeit“ als solcher nicht länger angemessen, um den Teil der menschlichen Tätigkeit zu fassen, der der Herstellung der gesellschaftlichen Subsistenzmittel gewidmet wäre; er ließe sich immer weniger klar von anderen Tätigkeiten scheiden.[ii] In einer Gesellschaft, die nach dem Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ lebt, hört die „Arbeit“ auf, eine entfremdete, abgetrennte Tätigkeit zu sein, sondern wird sie als „Selbsttätigkeit“, als „freie Tätigkeit“ (MEW Ergänzungsband 1, S. 517) „das erste Lebensbedürfnis“ (MEW 19, S. 21) werden. Man verliert nicht mehr sein Leben, indem man es gewinnt.

Wo die kapitalistische Rationalität einzig auf die Erhöhung der Arbeitsproduktivität zielt, wird eine kommunistische Rationalität der Selbstentfaltung bei sämtlichen Aufgaben und deren angenehmen Charakter den Vorrang geben, was auch bedeuten kann, dass man sich mehr Zeit für sie nimmt. Wird man bei einer solchen freien Tätigkeit zwischen einer „einfachen“ und einer „komplexen“ unterscheiden müssen, um die eine auf die andere zurückzuführen und so auf eine Art „abstrakte freie Tätigkeit“ zu kommen?

Die menschliche Tätigkeit lässt sich tatsächlich in „Gebrauchswerten“ messen, an der Zahl der erforderlichen Stunden beziehungsweise Menschen, die die Fähigkeit und das Bedürfnis haben, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Es kommt dabei aber auf die konkrete „Arbeit“ an, auf die materielle und technische Seite dieser Tätigkeit. Beim Bau einer Brücke zum Beispiel kann man genauso wie die benötigte Anzahl an Maschinen und Robotern oder die in Tonnen, Kubikmetern und Kilowattstunden gemessenen Baustoffe und Energie auch den benötigen menschlichen Kraftaufwand ermitteln: wie viele Stunden Menschen, die dies können und wollen, beispielsweise Roboter programmieren oder sich als Kranführer betätigen müssen.

Jenseits des Themas der Arbeitszeitrechnung bringt Lueer noch einen anderen wichtigen Punkt zur Sprache: Wie können wir in einer kommunistischen Gesellschaft „rationell aufwandsbezogen entscheiden, welche der Vielzahl möglicher Substitute und Produktionsverfahren vorteilhaft wären“? Auch wenn Lueer hier die verschiedenen Möglichkeiten von Arbeit und Produktionsmittel, die aufgewendet werden müssen, im Auge hat, so ist die Frage doch von allgemeinerer Bedeutung.

Wenn sich die Menschen von den Zwängen der kapitalistischen Rentabilität befreien, wird sich vor ihnen in sämtlichen Bereichen ein riesiges Feld von Möglichkeiten auftun, sowohl was die Entscheidung betrifft, welche Güter hergestellt werden sollen, als auch in der Wahl der „Produktionsmethoden“. Was im Kapitalismus unvorstellbar scheint, wird schon deswegen ganz alltäglich sein, weil die bisherige „Arbeit“  einer erfüllenden Tätigkeit gewichen ist. 

Diesen Gedanken verdeutlicht William Morris, für den alle anderen Veränderungen von einer solchen Veränderung der Arbeit abhingen, in seinem utopischen Roman Kunde von Nirgendwo (1890): In einem kommunistischen London bekommt der Erzähler unentgeltlich „eine aufwendig aus Hartholz geschnitzte Pfeife, die in Gold gefasst und mit kleinen Edelsteinen besetzt ist“. Ganz ähnlich meinte Lenin, im Kommunismus würde man Toiletten aus Gold herstellen.

Diese Beispiele stammen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Weltbevölkerung umfasste damals 1,7 Milliarden Menschen, nicht 7,6 Milliarden wie heute, und Fragen der Ökologie und der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen hatten noch keine große Bedeutung. Damals galt es zu zeigen, dass eine kommunistische Gesellschaft Dingen, die im Kapitalismus als kostbar betrachtet werden, nicht den selben Wert beimessen würde. Allerdings könnten diese Beispiele den Eindruck erwecken, dass im Kommunismus unbekümmert um alle materiellen Zwänge und Grenzen produziert wird, wie sie etwa mit der  Herstellung von Edelsteinen oder Gold einhergehen.

Das ist keineswegs der Fall. Wenn die Rationalität der kapitalistischen Produktion nichts weiter ist als eine Diktatur des Geldes zulasten aller anderen Gesichtspunkte, wird die Rationalität der Produktion im Kommunismus sämtliche menschlichen und materiellen Aspekte einschließen, die das Wohl und die Entfaltung eines jeden Bewohners des Planeten ermöglichen. Bei der Entscheidung darüber, was und wie produziert wird, wäre folglich eine viel größere Zahl an Kriterien zu beachten: Wie angenehm die produktive  Tätigkeit ist, wie selten oder reichlich vorhanden die benötigten Rohstoffe, wie schädlich oder ökologisch unbedenklich die Produktionsmethoden und das Produkt… und das alles sowohl in kurz- wie langfristiger Hinsicht.

Auch hier bringen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien so entscheidende Erleichterungen mit sich, dass man sich fragen könnte, ob der Kommunismus ohne sie materiell möglich gewesen wäre. Nicht nur, weil sie die Automatisierung der unangenehmsten Tätigkeiten und einen hinreichenden materiellen Reichtum ermöglichen, sondern auch weil sie jedem Einzelnen durch das Internet überall sämtliche notwendigen Informationen und Kriterien für seine produktive Tätigkeit zur Verfügung stellen.

Die künstliche Intelligenz, das exorbitante Wachstum der Leistungskraft von Rechnern und Big Data sowie der rapide voranschreitende Zugang der Weltbevölkerung zum Internet wälzen gegenwärtig die bestehende Produktionsordnung um. Die kapitalistische Logik kann aus ihnen Werkzeuge einer historisch beispiellosen totalitären Herrschaft machen. Eine kommunistische Logik aber könnte sie in Mittel verwandeln, dem gesellschaftlichen Leben endlich seine wirklich menschliche Dimension zu geben.

Fragen wie die von Lueer aufgeworfenen über die verschiedenen Produktionsmethoden, die in einer kommunistischen Gesellschaft möglich wären, lassen sich nur sinnvoll verhandeln, wenn man die gewaltigen Umwälzungen vor Augen hat, die gerade stattfinden. Dies wäre die interessanteste Weise, das Thema zu behandeln, und zugleich die unerlässlichste.

Raoul Victor

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[i]Anm. d. Übersetzer: Lueers Kritik wurde für Raoul Victor ins Englische übersetzt.

[ii] Zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Arbeit“ und dem, was aus ihr in einer „kommunistischen“ Gesellschaft werden könnte: Raoul Victor, Contribution to the Discussion on „Labor“ (2015),                                                                                       http://raoulv.pagesperso-orange.fr/150602_Contribution_discussion_on_work.pdf.